
(jul) Eine Klangmeditation über das Zeitalter des Dissonanten
Es ist ein Wagnis, in einer Zeit der permanenten Erreichbarkeit und der algorithmisch getakteten Reizverwertung ein Livealbum zu veröffentlichen, das sich jeder Form von Erwartbarkeit verweigert. Und doch ist es genau dieser Widerstand gegen das Kalkülhafte, gegen das Gefällige, der Live at the Church von Krautfuzz zu einem verstörenden, herausfordernden und letztlich kathartischen Werk macht.
Dieses Album ist kein Soundtrack für die Gegenwart – es ist ein akustischer Einspruch gegen sie.
Der Klangraum als Un-Ort
Bereits der Aufnahmeort – die evangelische Genezarethkirche in Berlin – evoziert einen symbolisch aufgeladenen Resonanzraum: Sakral, aber säkularisiert. Geweiht, aber entweiht durch Jahrzehnte profaner Umnutzung. Die Kirche wird hier nicht bloß als Venue verstanden, sondern als Gegenfigur zur modernen Welt – ein Raum, der einst für kollektive Einkehr stand und nun als Hallkörper für individuelle Eruptionen dient.
Krautfuzz betreten diesen Raum nicht mit Demut, sondern mit Neugier. Ihre Improvisation wirkt wie ein Akt der akustischen Aneignung: Statt liturgischer Ordnung herrscht klangliche Anarchie, statt Harmonie Dissonanz, statt Erlösung ein pochendes Grundrauschen der Nicht-Zugehörigkeit.
Musik für ein postkommunikatives Zeitalter
„Stochastic Rock“ nennt das Label Sulatron eine der musikalischen Referenzen dieses Trios, das mit Imari Kokubo (Drums), Dirk Dresselhaus (Gitarre, Stimme) und Derek Shirley (Bass) besetzt ist – und auf dieser Aufnahme mit keinem Geringeren als J Mascis (Dinosaur Jr.) an der Gitarre verstärkt wird. Doch „stochastisch“ meint hier weit mehr als eine mathematische Struktur: Es ist ein Statement.
Diese Musik ist nicht linear. Sie folgt keiner Erzählung, keiner klassischen Dramaturgie. Sie ist ein ästhetisches Modell für eine Zeit, in der Konsensfähigkeit keine Tugend mehr ist, sondern verdächtig wirkt. Krautfuzz liefern keinen „common ground“, keine identifikatorische Mitte. Was sie bieten, ist eine Einladung in einen akustischen Dissens-Raum, in dem das Vereinzelte nebeneinander existiert – ohne sich je ganz zu verbinden.
Man hört hier eine Musik, die das Scheitern von Kommunikation nicht beklagt, sondern zum Prinzip erhebt.
Klang als Widerstand: Wenn Noise zur Wahrheit wird
Die Improvisationen auf Live at the Church sind exzessiv. Nicht in der Lautstärke allein – obwohl auch die sich stellenweise in eruptive Zonen steigert – sondern im strukturellen Verzicht auf Auflösung. Harmonische Sicherheit ist hier nicht vorgesehen. Das Album verlangt von den Hörer:innen kein Verstehen, sondern ein Sich-Aussetzen.
Es ist Musik, die sich anfühlt wie das Durchqueren eines brüchigen inneren Geländes: Fragmentiert, widersprüchlich, übersteuert. Die Einsätze von J Mascis wirken wie geisterhafte Interventionen, als würde ein Archäologe der Grunge-Geschichte seine Soli wie Suchscheinwerfer in einen Höhlenkomplex schicken, in dem sich keine Orientierung gewinnen lässt.
Und dennoch: Gerade im radikalen Verzicht auf kohärente Form liegt die Kraft dieses Albums. Es artikuliert ein Lebensgefühl, das sich nicht mehr in Kategorien von Einheit, Entwicklung oder Auflösung organisieren lässt.
Unverbundenheit als Zustand
Die Improvisationen erinnern an mentale Zustände zwischen Hyperwachheit und Überforderung. Man denkt an Menschen, die gleichzeitig zu viel und zu wenig fühlen. An unsere digitale Zerrissenheit, an das Ringen um Verbindung in einer Welt, die kommunikativ überversorgt und emotional unterernährt ist.

Krautfuzz übersetzen diese Paradoxien in eine Musik, die keinen Halt bietet – aber genau darin tröstlich sein kann.
Die Musik evoziert Bilder eines vernetzten, aber isolierten Menschen:
– Ein Avatar, der ins Leere sendet.
– Ein Feed, der nur aus Noise besteht.
– Ein Körper, der sich sehnt – nach Ruhe, nach Einklang, nach Zugehörigkeit – aber nur sich selbst als Resonanzraum findet.
Es sind Klangflächen der Vergeblichkeit – und dennoch, oder gerade deshalb, so unglaublich notwendig.
Schmerz, Sehnsucht und die Schönheit des Widerstandslosen
Was dieses Album rettet – ja, es erlöst in gewisser Weise – ist seine Emotionalität. Sie ist nicht pathetisch, nicht greifbar, aber sie ist da: In der stoischen Vehemenz des Drummings von Kokubo, im sägenden Flirren der Gitarre, in der tiefgründigen Präsenz des Basses. In dem Willen, auszuhalten, dass sich nichts auflöst.
Es ist eine Musik des Abwartens, des Aushaltens. Eine Musik für das „Dazwischen“. Für das Danach, wenn alles gesagt wurde, aber nichts gehört. Für das Davor, wenn etwas kommen müsste – aber nicht kommt.
Und dann, ganz plötzlich, mitten im Getöse: ein Moment der Aufgabe. Nicht im Sinne des Aufgebens, sondern im Sinne des Sich-Hingebens. An das, was ist. An das Chaos, an den Schmerz, an die Überforderung. Hier wird das Album fast zen-buddhistisch: Nicht das Streben, sondern das Sein gewinnt die Oberhand.
Die Musik kippt in einen Zustand der Widerstandslosigkeit. Nicht der Passivität, sondern der tiefen Annahme.
Eine ästhetische Antwort auf die Zumutungen der Zeit
Live at the Church ist kein Album, das gefallen will. Es ist auch keines, das man „durchhört“. Es ist ein Album, das einem entgegenschleudert: Du bist nicht die Mitte. Es gibt keine Mitte. Es gibt nur das Jetzt, das Rauschen, das, was du nicht kontrollieren kannst.
Insofern ist diese Platte eine präzise Diagnose der Gegenwart:
– einer Zeit der permanenten Fragmentierung,
– einer Welt, in der jedes Signal zugleich Störung ist,
– einer Gesellschaft, in der das Einzige, was noch kollektiv erlebt wird, der Burnout ist.
Und genau deshalb ist dieses Album wichtig. Weil es sich dem verweigert. Weil es nicht mitspielt. Weil es keine Hooks liefert, keine Erlösung, keine Hymnen.
Weil es stattdessen sagt: Hör zu. Und dann: Hör weiter. Vielleicht wirst du nichts verstehen – aber du wirst fühlen.
Fazit: Ein Manifest des Dissonanten
Krautfuzz gelingt mit Live at the Church ein radikales Werk zwischen Performance, Klanginstallation und gelebter Philosophie. Dieses Album ist nichts für schwache Nerven. Aber für starke Seelen, die bereit sind, in einer überlauten Welt auf die Zwischentöne zu hören – und in der Dissonanz vielleicht sogar einen neuen Einklang zu entdecken.
In einer Ära, in der „Authentizität“ zur Währung verkommen ist, liefern Krautfuzz das, was wirklich zählt: Unverstelltheit. Und den Mut, das Unbequeme zu zelebrieren.
Was bleibt, ist ein Album wie ein leerer Raum – roh, schmerzhaft, aber voller Möglichkeiten.
VÖ-Datum: 16.05.2025
Label: Sulatron Records
Performed & recorded live on June 15th 2024 at Ev. Kirchengemeinde Genezareth, Berlin
Live mix & recording: Jaike Stambach
Studio mix: Dirk Dresselhaus (@ ZONE, Berlin)
Mastering: Jan Fabritius
Cover layout and art: iLan katin
Photography: Clydell Heidrich
Line-up Krautfuzz:
Imari Kokubo (Schlagzeug)
Dirk Dresselhaus (Gitarre, Gesang)
Derek Shirley (Bass)
Gast:
J Mascis (Gitarre)
CD Tracklist „Live At The Church“:
Track 1 (23:11)
Track 2 (39:37)
Die 180g Vinyl Version ist etwas kürzer.
KRAUTFUZZ live:
18.07. LT-Vilnius, Braille Satellite music festival
27.09. Berlin, Labor Sonor, Ballhaus Ost
Filed under: Album Reviews, Krautrock, Noise, Psychedelic, Krautfuzz, Live at the Church




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