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Envy (JP) in Köln, Gebäude 9, 11. August 2025

(pe) Am 11. August 2025, als die Sonne längst hinter einem matten Schleier aus Sommerdunst versunken ist, beginnt das Gebäude 9 in Köln zu pulsieren wie ein Herz, das den Takt einer unsichtbaren Vorahnung schlägt. Die Luft ist schwer – durchzogen von erwartungsvollen Stimmen, warmer Elektrizität und dem leisen, fiebrigen Wissen, dass gleich etwas Gewaltiges geschehen wird. Dann, ohne Pomp, ohne Ankündigung, treten sie ins Licht: envy – jene Formation aus Tokio, die seit 1992 wie ein unruhiger Strom zwischen Hardcore, Screamo und den weiten, fließenden Ebenen des Post-Rock mäandert. Aus den verrauchten Kellerclubs ihrer Anfangsjahre emporgewachsen, haben sie mit neun Studioalben, zahllosen EPs und Splits, Tourneen in allen Himmelsrichtungen und Kollaborationen mit Größen wie Mogwai oder Thursday einen Klang geformt, der ungestüm und zugleich erhaben ist.

Vorne steht Tetsuya Fukagawa, Mitgründer, Chronist, Beschwörer. Er verließ die Band 2016, kehrte 2018 zurück – und damit jene unverkennbare Präsenz, die jedes envy-Konzert wie eine Séance erscheinen lässt. Seine Stimme – ein flackerndes Spektrum zwischen gehauchtem Geständnis und aufschneidender Katharsis – vertont Gedichte in japanischer Sprache, die das Flüchtige, das Verlorene, das kaum Fassbare umkreisen. Wer ihre Worte nicht versteht, erfasst dennoch ihre Essenz: der Regen, der eine verlassene Straße reinigt – das Licht, das sich durch den Riss einer bröckelnden Wand schleicht – zwei Hände, die sich im Traum verfehlen.

An seiner Seite Manabu Nakagawa, der seit den ersten Tagen die tiefen Saiten zupft wie ein Geologe, der Erdschichten freilegt – jede Note ein Fundament. Daneben Nobukata Kawai, dessen Gitarrenlinien sich wie Gezeiten durch den Raum wälzen, mal sanft, mal zerstörerisch. Diese beiden Konstanten im wechselnden Line-up halten den Kern warm, während jüngere Mitstreiter neue Strömungen einspeisen.

Die ersten Töne schleichen sich ein wie Atem in der Stille – ein fernes Rauschen, das anschwillt, bis es als Lawine über uns hereinbricht. Schicht um Schicht legt sich der Sound über den Raum, Gitarrenflächen dehnen die Zeit, nur um sie im nächsten Augenblick mit Schlagzeugdonner zu zerreißen. Fukagawa singt oft mit geschlossenen Augen, als würde er direkt in sein tiefstes Inneres sprechen und uns dabei auf intimster Ebene zuhören lassen. Zwischen den Stücken des aktuellen Albums, das die Band mutig und weit gefasst zeigt wie immer, leuchten die vertrauten Konturen alter Hymnen wie „A Warm Room“ oder „Faint“ auf – nicht als Nostalgie, sondern wie alte, fast vergessene und plötzlich wiedergefundene Briefe, die beim Lesen unter den Fingern neu zu glühen beginnen.

Das Publikum verschmilzt dabei zu einem Ganzen, bewegt sich wie eine Flut: ein gemeinsames Einatmen in den Pausen, ein Aufbrechen in chaotische Strudel, sobald die Musik explodiert. Schweiß, Jubel, ein schimmerndes Gefühl von Gemeinschaft. Das Gebäude 9, rau, kantig und intim, ist an diesem Abend mehr als nur ein Ort des Auftritts – es ist gleichzeitig Resonanzkörper und Mitspieler, hält den Atem an in jedem Zwischenton, vibriert unter jedem Akkord.

Und dann – Stille. Der letzte Ton steht noch wie eine verblassende Silhouette in der Luft, bevor er sich ins Nichts auflöst. Ein leises Lächeln, ein kurzes Dankeschön, kein Zugabenritual. Nur dieses ungreifbare Etwas, das in der Brust zurückbleibt, wenn man weiß, dass man gerade Teil von etwas war, das nicht wiederholt werden kann. In diesem Moment sind sprachliche Barrieren nicht mehr existent – Fukagawas Vortrag, seine Gesten, sein Blick, tragen die Bedeutung wie ein Beschwörungszauber durch den Raum. Envy´s Musik hat seine Worte in pure Empfindung verwandelt, und jeder im Gebäude 9 versteht sie, als wären sie in der eigenen Sprache gesprochen.

Envy live zu erleben ist nicht vergleichbar mit dem Hören ihrer LPs oder CDs. Es ist eine tiefgehende Erfahrung. Tetsuya selbst sagt in einem Interview mit dem ox-fanzine:

„Vielleicht hatte ich die Absicht, dem Publikum durch meinen Text gute Energie und positive Gedanken zu vermitteln. Die Songs enthalten eine Botschaft, die von Hoffnung, Liebe und von innerem Frieden handelt, die zu Empathie ermutigt und dazu anregt, Verständnis für andere aufzubringen. Insbesondere geht es darum, negative Situationen und Gefühle zu überwinden und eine positivere Perspektive einzunehmen. Durch diese Texte hoffe ich, das Publikum dazu zu bringen, positive Gedanken und Wohlwollen für sich selbst und die Welt um sich herum zu hegen.“

Viel mehr kann man sich gerade in heutiger Zeit kaum wünschen! (peter)

Weblinks:

https://www.envybandofficial.com/

 

Filed under: Hardcore, Konzertphotos, Live Reviews, Postrock, ,

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Gavial - Broken von ihrem neuen Album "Thanks, I Hate It", das am 23.01.26 erscheint

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