rockblog.bluesspot

musikalisches schreibkollektiv

Motorpsycho – Yay!

„Motorpsycho sind wie eine kosmische Zwiebel, die sich wieder und wieder und wieder und unendlich wieder häuten kann und dabei jedes mal eine völlig neu facettierte Haut zum Vorschein bringt.“

(pe) Eine Ankündigung eines neuen Motorpsycho-Albums nur kurze Zeit nachdem bekannt wurde, dass Drummer Tomas Järmyr nach sechsjähriger Zusammenarbeit die Band verlassen hat – damit hatte niemand auch nur im Entferntesten gerechnet … Aber mal Hand auf´s Herz: Konnte man Motorpsycho schon jemals kalkulieren?

Auf diese Frage gibt es nur eine einzige und glasklare Antwort: Nein!

Und mit der Ankündigung begann das alljährliche (denn 1 x pro Jahr ein Album ist der so ungefähre Mindest-Output an Musik, den Motorpsycho den Fans seit langer Zeit bescheren) Rätselraten, was denn diesmal wohl die Ohren der Hörer beglücken könnte. Die Veröffentlichung des Covermotivs, auf dem die Worte „Motorpsycho? Yay!“ prangen (verbunden mit der Tatsache, dass Bent Sæther´s Sohn Jonathan gemäß seines Bandcamp Accounts ein glühender Pavement-Verehrer zu sein scheint und deren Album „Slanted & Enchanted“ in Gänze selbst als Ripoff neu aufgenommen hat) führte schnell zu Assoziationen zu Pavement´s 1995er Album „Wowee Zowee“, das motivisch ähnlich arbeitend mit den Worten „Pavement? Wowee Zowee!“ verwirrt. Schnell wich die Fangemeinde von dieser Initial-Vermutung aber zu der doch etwas näher liegenden Spekulation einer Anlehnung an das ikonische 1971er „The Yes Album“ der britischen Progrocker Yes ab, das ähnlich wie „Yay“ das Wort „Yes“ in einer Comic-Sprachblase auf dem Cover verwendet…

Der geneigte Leser merkt, dass sich ein bekennender und glühender Motorpsycho-Verehrer-Autor schon am Titel eines Albums festbeißen und in epische Gefilde abdriften kann, wenn ihm kein Lektor ein Zeichen-Limit setzt…

Aber wie eingangs erwähnt: niemals waren Motorpsycho vorhersehbar, und ich bin fester Überzeugung, das selbst ein ChatGPT–Bot oder irgendeine sonstige KI, die mit allen weltweit verfügbaren Motorpsycho-Daten gefüttert würde, in der Lage wäre, eine treffende Prognose auch nur eines einzigen in die Zukunft projizierten Tages dieser höchst wandelbaren Band tätigen könnte.

Motorpsycho sind wie eine kosmische Zwiebel, die sich wieder und wieder und wieder und unendlich wieder häuten kann und dabei jedes mal eine völlig neu facettierte Haut zum Vorschein bringt.

Etwas Licht ins Dunkel der Psychonauts, wie sich die Fangemeinde der Band selbst nennt, bringt Bent Sæther (Gesang und Bass) dann Ende April in seinem Statement auf der Website der Band (https://motorpsycho.no): Sämtliche Aufnahmen für „Yay!“ entstammen der elenden Corona-Zeit, in der die Band sich mehrfach hinterfragte, ob denn das, was sie tue, noch wirklich gut sei. Ob die Band überhaupt noch eine Daseinsberechtigung habe, und schließlich: ob die Band die Zeit der Pandemie überhaupt überleben würde. Um der draußen wütenden viruellen Finsternis, die sich langsam auch in die Köpfe der Band Bahn zu brechen schien, entgegenzuwirken, entschlossen sich die drei Protagonisten Bent Sæther (Bass, Gesang), Hans Magnus „Snah“ Ryan (Gitarre, Gesang) und Tomas Järmyr (Schlagzeug) kurzerhand, den Proberaum zu einem provisorischen Studio umzurüsten und dort ohne komplexe Aufnahmesysteme oder den totalen HiFi-Anspruch einfach auf´s Geratewohl „einfachere“, weniger komplexe, weniger improvisierte, weniger epische, wesentlich reduziertere Musik aufzunehmen. Zwei Monate lang währte dieser Prozess und bei dem Versuch der Begutachtung des Outputs aus dieser Zeit stellte die Band fest, dass es wohl besser sei, alles erstmal komplett auf die Seite zu legen, und die Sinne neu zu schärfen, da für sie nicht mehr erkennbar war, ob das Material nun gut oder schlecht war.

Die zweite Begutachtung der Aufnahmen führte laut Sæther dann zu einer kleinen Offenbarung: komplett außerhalb der sonst üblichen Motorpsycho-Parameter habe die Band (O-Ton): „We’d accidentally actually made something that was good: ‘a morning album’ we thought, or a ‘spring album’ – an album’s worth of tunes so different in mood to our usual concoctions that it actually needed to become an album of its own…“

Für das Finetuning engagierte man kurzerhand Tonmeister und Langzeit-Kompagnon Reine Fiske (flankiert von seinem Kollegen Fredrik Swahn) und gab ihm einen uneingeschränkten Freifahrtschein, um aus dem Material das finale Album zu destillieren, zu produzieren und abzumischen.

Und dieses Destillat einer düsteren pandemischen Krise erblickt nun mit „Yay!“ das Licht der Welt – und bildet abermals überraschend nicht die Düsternis einer Zeit bestimmt von Existenzangst und Social Distancing ab, sondern entpuppt sich als hauptsächlich mit akustischen Instrumenten eingespieltes Schatzkistchen voller kleiner, leichter, luftiger und zugänglicher Song-Perlen mit durchaus psychedelischem Flair wie insbesondere direkt die ersten drei Songs des Albums offenbaren: der Opener „Cold & Bored“, „Sentinels“ und die Singleauskopplung „Patterns“ (der oftmals leichtfüßig trippige Charakter der Songs erklärt vielleicht die Floyd´sche Reminiszenz im Video-Teaser für das Album, in dem das ikonische Cover von „Wish You Were Here“ rezitiert wird – auch wenn die Stücke auf „Yay!“ eher and die Psychedelik der Zeit mit Syd Barret erinnern).

Keine Moog-Taurus-Bass-Attacken, keine Fuzz-Eruptionen an der Gitarre, keine oktopusarmigen Ausbrüche hinter den Drums – dafür jede Menge Yin und Yang auf musikalischer und insbesonderer textlicher Seite: Helligkeit statt Düsternis, Freundlichkeit statt Depression, Hoffnung statt Dystopie, Wärme statt Angst.
Selten haben Motorpsycho so klar in ihren Texten gesprochen. Thematisiert werden immer beide Seiten der Medaille, aber das helle Yin dominiert letztendlich immer das dunkle Yang, wie Bent Sæther selbst sagt – und das tut wahrlich gut!

Nach dem psychedelischen Anfangs-Triple stellen Motorpsycho in „W.C.A.“ die elementare Frage: „What Comes After?“ – „Was kommt danach?“
Trotz deutlicher Angst vor dem schnellen Rückfall in alte Muster ohne irgendetwas aus der Krise gelernt zu haben, lässt auch dieser Song die Tür weit geöffnet für eine Weiterentwicklung des Menschen in die richtige Richtung. Beides erscheint möglich: „What will remain and what will have gone to hell?“ Wir haben es letzten Endes selbst in der Hand …
„Real Again (Norways shrugs and stays home)“ kehrt noch einmal kurz direkt zurück zur Zeit der pandemiebedingten sozialen Isolierung, träumt vom Ende der Distanzierung, und Motorpsycho fassen das Gefühl dieser Zeit in für die Band untypischerweise ganz klaren Worten zusammen, die keinerlei Interpretation bedürfen:
„You´re in a room and I´m in mine
we´re both dreaming of another time
when someday soon we´ll meet again
and then maybe we all can hug our friend
and be real again“

Mit meinem Albumfavoriten „Dank State“ hält auch eine feine akustische Folk-Note Einzug ins Album, und man kann sich der Positivität des Songs nicht erwehren und möchte direkt allen Mist einfach hinter sich lassen und im Takte fußwippend nur noch nach vorn schauen:
„the spell is broken altogether
the veil has lifted from our eyes
we are at the end of an error
fed up with conspiracies and lies

how sweet it is to see you on your way“
Eingerahmt vom wunderschön melodiösen und wiederum rein akustisch vorgetragenen „Loch Meaninglessness & The Mull Of Dull“ sowie dem kurzen Interlude „Scaredcrow“ ragt einzig „Hotel Daedalus“ mit seinen knapp 8 Minuten Länge aus dem Reigen kleinerer, minimalisierter Songs schon fast wieder monumental heraus, wirkt deutlich komplexer arrangiert und instrumentiert und sorgt mit seinem an Led Zeppelin´s „Kashmir“ erinnernden Riff direkt zu Beginn erstmals auch für eine tonal etwas härtere Gangart – interessanterweise wirkt gerade dieser Song, der eigentlich viel eher die „klassischen“ Motorpsycho repräsentiert als die restlichen Songs des Albums, wie ein Fremdkörper.
Vielleicht ist aber auch das Programm: das Gewohnte zum Ungewohnten werden lassen, die Welt wie wir sie kennen einfach mal auf den Kopf stellen…

„The Rapture“ schließt das Album konsequenterweise wunderbar hoffnungsvoll (Yin!), ja gar fröhlich ab – und eine fast profan wirkende aber dennoch wichtige weil so herrlich lebensbejahende Textzeile aus dem finalen Song fängt für mich den Geist dieses Albums perfekt ein:

„You hum a tune and make your way – it´s a beautiful, beautiful day!“

Fazit: „Yay!“ ist ein Album, mit dessen Musik man gerne morgens aufwacht oder nachmittags auf der sonnigen Terrasse seinen Cappuccino trinkt und verträumt politisch völlig unkorrekt aber umso genussvoller dabei seine tägliche Zigarette raucht, auf die man sich schon den ganzen Tag gefreut hat.

Die Stimmungen sind fragil, flüchtig, aber für Motorpsycho-Begriffe trotzdem immer zu (be-)greifen … mal melancholisch („Sentinels“), mal fröhlich („Dank State“), nie fatalistisch, nie zu Boden schmetternd ohne Hoffnung auf ein Wiederaufstehen. Fast hört man etwas Demut und Dankbarkeit heraus in der Reduktion auf das Wesentliche … vielleicht ist es genau das, was wir aus der Pandemie gelernt haben könnten oder gar gelernt haben sollten: Höher, schneller, weiter, größer führt nicht zum Ziel – bringt uns irgendwann in eine Sackgasse ohne Ausweg. Achtsamkeit und Besinnung auf das Essentielle könnten ein Ausweg aus der drohenden Katastrophe sein, die uns allen durch Pandemie, Ukraine-Krieg oder Klimakollaps wie Schleifpapier in einer wüstensonnengetrockneten Kehle ätzt.
Und „Yay!“ liefert uns den Soundtrack zu diesem Gesinnungswechsel, lässt uns tief und entspannt durchatmen in unserem sonst so hektischen Alltag, nimmt den Fuß vom Gaspedal und entschleunigt uns wohltuend, schiebt ein kleines grünes Blatt durch den meterhoch betonierten Klotz gesellschaftlicher Probleme auf unserer Brust.

Bent Sæther orakelt, dass dieses Album spalten könnte – in diejenigen, die „Yay! Endlich!!!“ sagen und in diejenigen, die es mit „Nay! What the fuck!“ inbrünstig ablehnen.
Ich oute mich hier gerne als Teil der uneingeschränkten „Yay!“-Fraktion und lege jedem, der offen ist für (musikalische) Veränderungen, der auf der Suche nach etwas Balsam für die Seele ist, oder der schlicht und einfach einmal durchschnaufen möchte, um morgen auf wundersame Weise energiebetankt wieder weiterzumachen (oder im besten Falle gar ganz neu zu starten), dieses Album ans Herz.
Die motorpsychedelische Zwiebel hat sich erneut gehäutet … Yay!

Tracklist

1. Cold & Bored
2. Sentinels
3. Patterns
4. Dank State
5. W.C.A
6. Real Again (Norway Shrugs & Stays Home)
7. Loch Meaninglessness & The Mull of Dull
8. Hotel Daedalus
9. Scaredcrow
10. The Rapture

(peter)

Filed under: Album Reviews, Folk, Psychedelic, Rock, ,

Archiv

international – choose your language

Gavial - Broken von ihrem neuen Album "Thanks, I Hate It", das am 23.01.26 erscheint

Juni 2023
M D M D F S S
 1234
567891011
12131415161718
19202122232425
2627282930  

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten. Informationen zum Umgang mit Deinen Daten findest Du in der Datenschutzerklärung.

Diese Artikel werden gerade gelesen:

Festivals, Konzerte, Tourneen + Veranstaltungen
Dream Theater - Quarantième: Live à Paris
Desertfest Berlin 2025 Columbiahalle und Columbiatheater - 23.05. bis 25.05.25
Crazy Chris Cramer - "...unterwegs"