(ju) Norwegen hat Leprous, Schweden hat Meshuggah, Kanada hat Devin Townsend, die USA haben Tool und wir – wir haben THE HIRSCH EFFEKT. Auch wenn man mitnichten alle genannten Musiker und Bands gemeinsam in eine Schublade stopfen kann und darf, so sei wenigstens der Stempel „May contain Progressive Metal“ erlaubt.
Bei THE HIRSCH EFFEKT können Freunde der Kategorisierung fröhlich mit weiteren alphabetisch sortierten Stempeln um sich hauen: Artcore, Avantgarde, Djent, Emocore, Experimental Metal, Kammermusik, Mathcore oder, wie die Band ihre Musik selbst bezeichnet: Krawallkunst. Während Leprous und auch Mister Townsend es auf ihren letzten Alben deutlich ruhiger angehen lassen, wirken THE HIRSCH EFFEKT auf ihrem aktuellen, sechsten Album „Urian“ zwar ebenfalls ein wenig gezähmter, treten andererseits jedoch deutlich metal-bissiger auf. Die drei Herren aus Hannover sind gewissermaßen „erwachsen“ geworden, zugleich aber fast noch genauso verspielt, verrückt und experimentierfreudig wie zu ihren Anfängen in den 2010ern. Der Emocore zieht sich auf „Urian“ langsam zurück und macht Platz für markdurchdringende Black-, Death- und Thrash-Metal-Elemente. So bieten vor allem „2054“, „Urian“ und „Blud“ eine Vielzahl an Blastbeat-Bombardements, die die Gehörgänge wie Teerpappe durchziehen. Als seicht-zarten Rahmen dienen die beiden seidenweichen Ohrenschmeichler „Agora“ und „Eristys“, die das manisch-explosive Gemisch mit Akustikgitarre und Streichern im Zaum halten und damit einen sanften Ein- und Ausstieg ermöglichen. Dazwischen schlummern mit „Otus“ und „Stegodon“ zwei Klangdiamanten voller harmonischer Finesse und umarmender Gesangsmelodien. Vor allem der extrem vielfältige Titel „Otus“ besticht durch seine kongeniale, raffinierte Polyrhythmik. Sein Schluss lässt Tool-Herzen höher schlagen und macht „Schism“ alle Ehre.
Dabei beherrschen Nils Wittrock (Gitarre, Gesang), Ilja John Lappin (Bass, Gesang), und Moritz Schmidt (Drums, Gesang) ihre Instrumente gewohnt famos und punktgenau und kreischen und brüllen zu dritt ihren Schmerz hinaus in diese alles zermürbende Welt, während Wittrocks ausdrucksstarker klarer Gesang sich immer wieder wie ein tröstender Arm um bebende Schultern legt. Neben der musikalischen Virtuosität überzeugen THE HIRSCH EFFEKT mit poetischen, teils stark chiffrierten Texten, die intertextuelle Verweise enthalten („Urian“ —> Goethes „Faust“), Enjambements scheinbar endlos ausdehnen und mit bewussten Regelbrüchen für Irritation sorgen („Verstehe kein Wort, doch glaube ich dich“, aus: „Stegodon“). Ein Text, der besonders unter die Haut geht, ist „Granica“, polnisch für Grenze: Hier verarbeitet Wittrock seine höchst emotionale Reise an die polnisch-ukrainische Grenze kurz nach Ausbruch des russisch-ukrainischen Krieges, als er die Menschen dort mit Hilfsgütern versorgte: „Die Knochen kalt / Im Bauch liegt schwer die Reise / Treibt mich die Ausweglosigkeit / Und die Scham, dass ich weiß, ich kann zurück“. Auch „Agora“ greift das Thema auf, das entsetzlicherweise nicht nur immer noch, sondern wieder höchst aktuell ist: „Dieser Krieg, diese Pest / Meine Welt findet nicht mehr zu mir zurück / Entgleist, entrückt / Gar kein Halt, gar kein Sinn / Wann wird irgendetwas sein, wie es mal war?“
Das Besondere an „Urian“ ist, dass die Scheibe trotz seiner Hirsch-typischen, anspruchsvollen Komplexität in seiner Gesamtheit zugänglicher ist als seine Vorgänger. Vielleicht liegt es auch daran, dass es dem Hannoveraner Trio gelingt, all die widersprüchlichen Gefühle dieses extrem herausfordernden Jahrzehnts so eindringlich und sensibel zu vertonen – diese Ambivalenz aus Krisen, Kriegen und Alltag, bei der wir als Zaungäste der Gnade der Distanz unterliegen und uns bloß innerlich zerreißen zwischen Hinsehen und Wegschauen. Bei solch kollektiver Zermürbung kann „Urian“ Trost spenden und zugleich als Ventil für angestaute Wut und Ängste dienen.
(Judith)
Label: Long Branch Records
VÖ: 29.09.2023
Länge: 52:14 Minuten
Tracklist:
1. Agora
2. Otus
3. 2054
4. Urian
5. Stegodon
6. Granica
7. Blud
8. Eristys
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