rockblog.bluesspot

musikalisches schreibkollektiv

THE HIRSCH EFFEKT & A KEW‘S TAG am 20.10.2023 im Vortex, Siegen-Weidenau

(Text und semi-professionelle Handy-Fotos: Judith) Am heutigen Abend werden im Vortex Surfer Musikclub Genregrenzen gesprengt und Hörgewohnheiten ad absurdum geführt, dass sich am Ende glücklich schätzen kann, wer noch seinen Namen weiß.  

A KEW‘S TAG aus Hannover führen mit ihrer einzigartigen Kombi aus akustischem Progressive Rock in den musikalisch anspruchsvollen Abend ein. Mögliche Skeptiker werden schnell eines Besseren belehrt, wenn Johannes Weik die Saiten über dem Holzkorpus bedient, als wäre die elektrische Gitarre eine überflüssige Erfindung. Klar wäre plugged lauter, fetter, härter – aber nicht so herausstechend. Manchmal ist weniger eben mehr. Frontmann Julian Helms begleitet mit seiner facettenreichen Stimme das innovative Rhythmusgerüst von Gitarrist Weik und Ersatz-Drummer Fenix (von der Band Soulsplitter), der auf dieser Tour für Florian Weik eingesprungen ist und heute erst sein drittes Konzert mit A KEW‘S TAG spielt. Was man ihm überhaupt nicht abnehmen möchte, so professionell bedient er die Knüppelmaschine. Respekt Jungs, weiter so! 

Ab 21.30. Uhr verschwurbeln THE HIRSCH EFFEKT schon direkt zu Beginn mit „Agnosie“ vom 2015er Kracher „Holon: Agnosie“ unsere Gehirnwindungen, so dass niemand mehr recht weiß, wo oben und unten ist. Egal. Hauptsache, es geht nach vorne. Und das tut es, 100 Minuten lang. Die drei Virtuosen aus Hannover machen auf ihrer Deutschland-Tour zum frisch erschienenen Album „Urian“ zum wiederholten Male im Siegener Vortex Halt und bieten eine wilde musikalische Reise durch ihre Diskografie, sechs Studioalben an der Zahl, plus eine EP. Ohne Verschnaufpause geht‘s direkt weiter mit dem von Bassist Ilja Lappin für die 2022er „Solitaer“-EP geschriebenen Ohrwurm-Prügeltrack „Palingenesis“, der ein anschauliches Beispiel für einen gekonnten Mix aus vertracktem Geknüppel, Screaming und Growling sowie mitreißender Gesangshook in den Refrains darstellt. Getreu dem Motto: Geschüttelt, bloß nicht gerührt. „Zoetrop“ („Holon: Hiberno“, 2010) sorgt mit ein wenig punkigerer Attitüde für fröhlich-freche Laune, bevor der Song mit herrlich verstörender Mathcore-Manie auf zwei weitere Genre-sprengende, bipolare Wundertüten vorbereitet: das etwas sanftere „Inukshuk“ vom 2017er Album „Eskapist“ und Knallbonbon „Nares“ („Solitaer“).

Was Moritz Schmidt an den Drums, Nils Wittrock an der Gitarre und Ilja Lappin am Bass bisher im Studio produziert haben, lässt wohl niemanden an deren Talent und Begabung auch nur ansatzweise zweifeln. Doch die drei Hannoveraner live auf der Bühne zu erleben, lässt Münder offen stehen und Köpfe ungläubig schütteln. Ehrfurchtsvolles Staunen ist wohl neben frenetischem Grinsen die am häufigsten zu beobachtende Mimik an diesem Abend. Diese drei Genies beherrschen ihre Instrumente perfekt und sind zudem eins A aufeinander abgestimmt – anders wäre ihre instrumententechnische Finesse aus punktgenauen Tempiwechseln, komplexer Polyrhythmik und höchst kreativen Breaks auch gar nicht möglich. Wittrock und Lapin steigen abwechselnd auf die Monitorbox und wirken ein wenig wie vom Teufel besessene Musikgötzen, wenn sie dort oben von dramatisch aufsteigenden Nebel umhüllt ihre Finger über die Saiten huschen, gleiten, springen lassen, dass einem vom Zuschauen ganz schwindelig wird. Bei aller Präzision und Aggression, derer es durchaus bedarf, bewahren sich die Hirsche eine sympathische Portion Gelassenheit und Humor, machen Scherze und agieren immer wieder mit dem Publikum. 

Im Folgenden gibt es vier Titel der aktuellen Scheibe „Urian“, beginnend mit dem gleichnamigen Prügelknaben des erfolgreichen sechsten Albums, welches trotz seines anspruchsvollen und eher unzugänglichen Charakters auf Platz 31 der deutschen Album Charts landete. „Granica“ schaltet daraufhin einen Gang zurück und sorgt zusammen mit „Agora“ für den emotionalen Teil des Abends. Für das tief berührende „Agora“ richten es sich die Musiker in gemütlicher Kammermusik-Atmosphäre ein: Nils Wittrock begleitet seine Akustikgitarre mit zartem, zerbrechlich wirkenden Gesang, Ilja Lappin bedient mit geschlossenen Augen verträumt das Cello und Haudraufdegen Moritz Schmidt beweist, dass er auch Bass kann. 

„Granica“ und „Agora“ stellen dramaturgisch betrachtet gewissermaßen das retardierende Moment dar, die Verschnaufpause, die es uns ermöglicht durchzuatmen, das bisher Erlebte sacken zu lassen und neue Energie zu tanken für den dritten Akt. Die extrem vielseitige Klangperle „Otus“ fährt das Publikum wieder hoch und bereitet auf ihrer progressiven Umlaufbahn auf die erneute Eskalation vor. Die Köpfe und Gliedmaßen vor der Bühne geben sich größte Mühe, im Takt mit abzugehen, doch die drei Tiere da oben machen es uns nicht leicht. Kali müsste man sein, die Göttin mit den vielen Armen. Oder Shiva, wer die männliche Variante bevorzugt. Am besten mit zwei Köpfen. Dann könnte man – bei ausreichend ausgeprägter Koordinationsfähigkeit – wunderbar polyrhythmisch im Takt tanzen. So bleibt uns jedoch nichts anderes übrig, als uns einfach nur mitreißen zu lassen und frenetisch abzuzappeln. Spätestens nach „Lifnej“ befindet sich in den Köpfen nichts mehr, wo es vorher war. Der Frontallappen hat seinen Platz mit dem Kleinhirn getauscht und die Synapsen schießen sowieso schon seit dem Opener wild durcheinander. Mit „Kollaps“ folgt ein cineastisch angehauchter Titel vom gleichnamigen Album aus 2020, der ein letztes Mal zügelt und verzaubert, bevor sich Wittrock und Lappin bei „Mara“ („Holon: Anamnesis“, 2012) unter metallischem Riffgewitter zu zweit die Seele aus dem Leib brüllen. Was für ein monumentaler Brecher! Die Zugabe „Cotard“ stammt wie der heutige Opener vom 2015er Album „Holon: Agnosie“ und ist ein weiteres kongeniales Beispiel von der gewagten, aber gelungenen Fusion aus vertrackter, unnahbarer Komplexität und süchtig machenden Ohrwurm-Hooks, die so nur THE HIRSCH EFFEKT hinbekommt. Mächtiger Badabumm! 

(Judith)

https://thehirscheffekt.de/

Filed under: Live Reviews, , , ,

Archiv

international – choose your language

Gavial - Broken von ihrem neuen Album "Thanks, I Hate It", das am 23.01.26 erscheint

Oktober 2023
M D M D F S S
 1
2345678
9101112131415
16171819202122
23242526272829
3031  

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten. Informationen zum Umgang mit Deinen Daten findest Du in der Datenschutzerklärung.

Diese Artikel werden gerade gelesen:

Festivals, Konzerte, Tourneen + Veranstaltungen
Dream Theater - Quarantième: Live à Paris
Desertfest Berlin 2025 Columbiahalle und Columbiatheater - 23.05. bis 25.05.25
Crazy Chris Cramer - "...unterwegs"