(pe) Es ist einfach nur erstaunlich, wie eine offensichtlich äußerst produktive Band wie Kanaan es schafft, einen derartig großen kreativen Output neben dem bandeigenen Schaffen zu generieren: im März diesen Jahres erst mit dem fantastischen Album „Cloud Sculptors“ des Side-Projects „Full Earth“ an den Start gegangen, ausgedehntes Touring durch Clubs und Festivals in Europa (zuletzt mit Kanaan und Full Earth beim diesjährigen Freak Valley Festival in Netphen), und ganz beiläufig veröffentlichen sie in diesem Monat einen Song, der einer Kollaboration mit der norwegischen Neo-Folk-Band „Ævestaden“ darstellt.
Lange schon hatten beide eng befreundete Bands einer Zusammenarbeit entgegengefiebert und verwirklichen diesen Wunsch nun mit der Neuvertonung der mittelalterlichen Ballade „Habbor og Signe“ (Synopsis: siehe am Ende des Textes). Dabei bündeln beide Bands ihre ureigenenen musikalischen Kräfte zu einer komplett neuartigen stilistischen Komposition: Psychedelic Rock meets Mittlealter-Folklore.
Und das Ergebnis überzeugt und fasziniert gleichermaßen: zunächst fühlt der Hörer sich durch die Fiddle wie ein Zeitreisender, der urplötzlich in mittelalterliche Gefilde versetzt wird. In der Folge hört er dann zwei komplett unterschiedliche musikalische Ansätze getrennt voneinander, steht quasi zwischen ihnen, lediglich verbunden durch die sich durchziehende fast klagend vortragende Stimme des Minnesängers, und wird Zeuge, wie beide Stile sich aufeinander zubewegen, sich umarmen, sich mal aneinander reiben und um die Vorherrschaft kämpfen, um sich danach wieder aneinander zu schmiegen – und schließlich zu einer musikalischen Einheit zu verschmelzen.
Was den textlichen Inhalt angeht, waren Ingvald und Kenneth so nett, mir für das Review eine Übersetzung der Ballade zu senden:
«König Hagbard ist in Signe verliebt, kann aber nicht mit ihr zusammen sein, weil er ihre Brüder bei einem Wikingerüberfall getötet hat. Trotz ominöser Träume lässt er sein Haar wachsen, kleidet sich in Frauenkleider und geht in Signes Kammer, wobei er vorgibt, Nähen lernen zu wollen. Signe findet es seltsam, dass diese „Jungfrau“ nicht nähen kann und bemerkt, dass sie keine Brüste hat. Hagbard erklärt, dass Jungfrauen im Land seines Vaters Rüstungen tragen, die die Entwicklung ihrer Brüste verhindern. Nachts enthüllt er Signe seine wahre Identität, aber ein Dienstmädchen belauscht sie und informiert Signes Vater, König Sigvard. König Sigvard nimmt Hagbard gefangen, der sich tapfer verteidigt, aber schließlich mit Signes Haar gefesselt wird, das er sich nicht ausreißen will. Er fragt Signe, ob sie sich verbrennen wird, wenn sie ihn am Galgen sieht, und sie stimmt zu. Am Hinrichtungsort bittet Hagbard den Henker, zuerst seinen Umhang aufzuhängen. Als er Flammen aus Signes Kammer sieht, wird ihm klar, dass sie sich das Leben genommen hat. Hagbard bittet darum, gehängt zu werden, und König Sigvard erkennt die Stärke ihrer Liebe und bereut seine Tat. Das Dienstmädchen, das sie verraten hat, wird lebendig begraben.»
Selten war es derart interessant, mit den Ohren zu verfolgen, wie die einander fremden Musikstile symbolisierend für die beiden Protagonisten der Ballade stehen, die eigentlich nicht zusammengehören, aus verschiedenen Welten stammen und sich eigentlich nicht lieben dürfen – und am Ende eben doch alle Widrigkeiten überwinden, zusammenfinden und letztlich tragischerweise im Tod Vereinigung finden. Genau so trotzen Kanaans progressiver Rock- und Ævestadens Folk-Ansatz allen angeblichen Gesetzen und Widrigkeiten und finden einen Weg, miteinander zu koexistieren – vielmehr noch: eine Einheit zu bilden, die der Hörer als zusammengehörig empfindet. Gerade in heutiger Zeit politisch populistischer Rechtsverschiebung kann man hier durchaus auf einer tieferen Ebene ein flammendes Statement für Multikultur hineininterpretieren: es kann zusammenwachsen und es kann sich lieben was von außen als gesellschaftlich nicht schicklich propagiert wird!!!
Kanaan bezeichnen diese wunderbare Jazz-Rock-Überarbeitung der Ballade als perfekten Startpunkt für die Zusammenarbeit beider befreundeten Bands – und das lässt hoffen, dass sie uns in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft mit einem kompletten Album verwöhnen werden… (peter)
Line-Up
Ask Vatn Strøm – guitar, vocals
Eskild Myrvoll – bass, vocals
Ingvald André Vassbø – drums, vocals
Kenneth Lien – vocals, electric guitar
Levina Storåkern – vocals, fiddle, octave fiddle
Eir Vatn Strøm – vocals, kravik lyre
Verwandte Links:
https://kanaanband.bandcamp.com/track/habbor-og-signe
https://rockblogbluesspot.com/2020/04/30/kanaan-double-sun/
https://rockblogbluesspot.com/2024/03/13/full-earth-cloud-sculptors/
Filed under: Album Reviews, Folk, Psychedelic, Ævestaden, Habbor og Signe, Kanaan





