(ju) Ilja John Lappin ist ein Tausendsassa, wie er im Buche steht. Er beherrscht unzählige Instrumente und verbringt gefühlt mehr Zeit auf Konzertbühnen denn auf festem Boden. Vermutlich nährte er sich als Säugling mit Musik statt Milch. Schon in der progressiven Math-Metal-Band The Hirsch Effekt macht Lappin seit 2008 gemeinsam mit seinen Kollegen Moritz Schmidt und Nils Wittrock sein Ding, ohne Rücksicht auf Schubladen und Mainstream, spielt mit ihnen 2023 auf dem Euroblast und ein Jahr später im Vorprogramm von Leprous. Außerdem begleitet er als Bassist und Cellist Kumpel Billy Andrews alias The Dark Tenor regelmäßig auf Tournee durch ausverkaufte Hallen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Doch das reicht ihm nicht.
Gleich einem Vampir mit unstillbarem Appetit auf Blut (verzeiht den kitschigen Vergleich) dürstet es Lappin nach mehr Musik, mehr Entfaltung, mehr Ausdruck. Trotz seiner vermeintlichen Auslastung mit zwei Großprojekten fehlt ihm ein weiteres Ventil für seine Gedanken, Gefühle, Emotionen. Also fackelt er nicht lange und macht einfach. Stampft gleich seinem Vorbild Trent Reznor im Alleingang „mal eben“ ein eigenes Musikprojekt aus dem Boden. Schreibt zwölf Songs, spielt die Instrumente ein, singt sanft, schreit wahnsinnig und brüllt inbrünstig, produziert, vermarktet, erfindet sich gewissermaßen neu. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, alles ist sorgfältig durchdacht, aufeinander abgestimmt, von der Musik über Kleidung und Schminke bis hin zu ansprechenden Bandfotos und Musikvideos. PINHEAD ist mehr als ein Musikprojekt, es ist ein Kunstprojekt. PINHEAD ist Lappins Baby, sein Innerstes, gestülpt, vertont und projiziert nach außen.
Dabei stellt sich sein Erstling „Egomessiah“ als zersplittertes Zerrbild heraus, das sich – ebenso wie die Musik von The Hirsch Effekt – jeglicher Genrezuweisung entzieht. Jedes Stück ist unvorhersehbar, doch trotz der schizophrenen Züge weist das Album eine gewisse Ordnung auf und verliert sich nie in ausufernder, haltloser Experimentierwut. Es ist vielmehr geordnetes Chaos auf hohem Niveau, unangepasst und freigeistig.
Titel wie „Lapse“, „Absurdist“, „I I I“ oder „Stigmatizer“ bestechen durch einen Dualismus, der Wahnsinn und Hysterie mit harmonischen Gesangsmelodien verbindet und dadurch all die widersprüchlichen Emotionen und Erfahrungen des Menschseins spiegelt – in all diesen Splittern, die nach dem Faustschlag gegen den Spiegel umherfliegen.
Ein wenig zugänglicher sind das eindringliche „Violetor“ sowie das epische „Lesser Lights“. Gerade Letzteres besticht durch eine Tiefe, die meiner Meinung nach die anderen Songs des Albums überstrahlt und stellenweise die Anmut eines Porcupine-Tree-Song aus den Neunzigern beschwört. Dabei gelingen Lappin immer wieder packende Refrains, die die zuvor aufgewühlten Seelen sanft umarmen, wie zum Beispiel in dem ansonsten tollwütigen Stück „In Recent Times“.
Neben stampfenden Riffs und brüllendem Gesang der alten Schule („Used Future“) gibt es zwei instrumentale Zwischenspiele (das sanfte „Serene Day“ und das wummernde „Transition“), eine zärtliche Ballade mit Gastsängerin Ambre Vourvahis von der deutschen Symphonic-Metal-Band Xandria („Counterfate“) sowie – verglichen mit dem Rest – einen Popsong („Longfall“). Selbst diese Shuffle-Perle fügt sich stimmig in das Gesamtwerk ein.
In dem augenscheinlich vertonten Chaos stecken hoch komplexe Kompositionen, die trotz aller Dualismen harmonische Symbiosen eingehen und sie dadurch greifbar werden lassen. Und eben weil PINHEAD aus dem eingangs erwähnten inneren Antrieb und Lappins ungestillter Leidenschaft heraus entstanden ist, verliert sich „Egomessiah“ nicht im vorhersehbaren Mainstreammatsch, sondern behauptet sich als ernstzunehmender und vielversprechender Stern am deutschen Musikfirmament, der mit Sicherheit noch weit über die deutschsprachigen Grenzen hinausstahlen wird.
(judith)
Label: No Cut!
VÖ: 31.01.2025
Trackliste:
- Lapse
- Violetor
- Absurdist
- In Recent Times
- I I I
- Used Future
- Counterfate
- Serene Day
- Lonefall
- Transition
- Stigmatizer
- Lesser Lights
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