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Kanaan (Support: SEK) – FZW Dortmund am 29.08.2023

„…neben all ihrer Virtuosität am jeweiligen Instrument ist es gerade diese Fähigkeit zur perfekt miteinander agierenden Improvisation, die den heutigen Abend zu einem einzigartigen Erlebnis macht und die Grenzen konventioneller Musik sprengt…“

(pe) Vor drei Jahren hatte mir ein Motorpsycho-Freund aus Norwegen schon ans Herz gelegt: „Es gibt eine weitere hervorragende norwegische Band namens Kanaan – wenn sie mal in Deiner Nähe spielen, geh´ unbedingt hin, die sind unglaublich gut!“ Seitdem hatte sich die Chance irgendwie nie ergeben – bis Dienstag, denn vor einigen Wochen tauchte plötzlich und unerwartet die Ankündigung des Dortmunder FZW auf, dass Kanaan dort auftreten werden – quasi direkt vor meiner Haustür.
Man muss im Leben halt auch mal Glück haben …

Und in genau diesen Genuss sollten die knapp 100 Anwesenden im kleinen Saal des Dortmunder Freizeitzentrum West (FZW) an diesem Abend kommen. Vorgewärmt durch die ebenfalls in instrumentalen Psychedelic-Rock-Gefilden beheimatete Leipziger Band SEK (https://stoyanedertkazzer.bandcamp.com/album/in-der-tat ) (zwei der Musiker bilden übrigens die Hälfte der hier im Rockblogbluesspot kürzlich rezensierten Band „Gavial“ – ehemals Tourette Boys: https://rockblogbluesspot.com/2023/05/12/gavial-vor/), die mit ihren abwechslungsreichen und voller Improvisationsüberraschungen steckenden fuzzkrautigen Jams schnell das Wohlgefallen des Publikums eroberten, staunte jeder der Anwesenden spätestens nach 5 Minuten im Set von Kanaan leuchtende Bauklötze ob der Energie, die taifunartig von der Bühne auf die Zuhörer niederrauschte:

Mit „Amazon“ vom aktuellen Album „Downpour“ startet Kanaan fulminant in den späten Abend: die Wucht des ersten Songs zeigt sich für mich insbesondere in der Tatsache, dass ich kein einziges Foto oder Video während des Vortrags aufgenommen habe – eine Angewohnheit, der ich sonst wirklich immer fröne, weil ich gerne meine Bilder möglichst schnell im Kasten habe, um mich dann hintenraus besser rein auf die Musik konzentrieren zu können. Aber Schlagzeugintensität, Bass-Fuzz und Gitarren-Peitsche haben mich derart in Gefangenschaft genommen, dass nicht einmal auch nur der Ansatz der Idee des Handy-Zückens in meine Synapsen gesickert ist …

Und Vollgas bleibt zunächst das vorherrschende Motto, denn mit „Pink Riff“ vom 2021er Album „Earthbound“ geht es in die zweite Runde und hartes Riffing gepaart mit frickeligen Gitarrenläufen und dem unfassbar kräftigen Anschlag von Ingvald André Vassbø auf das vor ihm erzitternde Drumset lässt den Zuhörern nicht einen Mikromillimeter Platz für Verschnaufpausen. Garniert wird dieser Song mit wohldosierten hochfrequenten oszillierenden Effekten, die Eskild Myrvoll irgendwie während seiner Bassriffs noch aus dem Synth-Equipment hervorzuzaubern weiß.

„Downpour“, der Titelsong des 2021er Albums, hat als drittes Highlight des Abends dann durchaus auch einmal ein paar ruhigere Passagen, zieht aber mittig und gegen Ende derart an und weitet abermals Augen und Ohren aller Anwesenden Zeugen extrabreit, als Ask Vatn Strøm minutenlang die Finger über sein Griffbrett flirren lässt, dass man sich ernsthaft auf zwei mögliche Szenarien vorbereitet: entweder sollten jeden Moment Funken wie beim Metallflexen mit einem Winkelschleifer aus den Gitarrensaiten sprühen, oder es könnten im ungünstigsten Falle gleich Blutstropfen über die Bühne sprühen, weil die Saiten eierschneidergleich die flitzenden Finger zersäbeln. Nichts von beidem passiert gottseidank, aber ich bin sicher, wir waren alle ganz kurz davor, Zeugen einer der beiden Varianten zu werden…

Nach nur drei Songs ist mittlerweile fast eine Dreiviertelstunde wie im Flug vergangen, und als man sich schon fragt, wie die Band diese Energieleistung denn bloß bis zum Ende des Gigs durchhalten soll, kündigt Ingvald (übrigens in hervorragendem Deutsch, denn wie ich später erfahre ist seine Mutter in Deutschland gebürtig) einen selten oder bisher nie gespielten Song „speziell für Euch“ an und es folgt mit „Softly Through Sunshine“ dankenswerterweise ein ruhigeres Stück vom sechsten Studioalbum „Diversions Vol. 1“, das Kanaan 2022 unter Mitwirkung des jungen Jazzpianisten Håvard Ersland aufgenommen hat. Der Hochdruck der vorausgegangenen drei Stücke hat jedoch Spuren beim Equipment hinterlassen, denn gegen Ende des Songs reißt das Fell der Basedrum (das muss man auch erstmal schaffen in der Kürze der Zeit!), was die Band dazu veranlasst, nach „Softly“ eine zehnminütige Reparaturpause einzulegen – keiner im Publikum will das wirklich, aber jeder einzelne kann es definitiv sehr gut gebrauchen!

Und als die drei Herren ihre Instrumente schließlich frisch gepflegt wieder aufnehmen, folgt der Höhepunkt des Abends, der auf der Setlist schlicht als „Jam“ bezeichnet ist: die darauffolgenden 15 Minuten sind wie ein Rausch – die Band führt uns durch einen Querschnitt aller musikalischen Einflüsse, die sie in ihrer Musik verarbeiten und es ist unmöglich, den Körper still zu halten: Kanaan lassen die Musik atmen, lassen sie schreien, lassen sie ausufernd tanzen, lassen das Publikum das komplette Emotionsspektrum von Glückseligkeit bis brachialer Wut durchleben – und lassen die Zeit stillstehen …  und neben all ihrer Virtuosität am jeweiligen Instrument ist es gerade diese Fähigkeit zur perfekt miteinander agierenden Improvisation, die den heutigen Abend zu einem einzigartigen Erlebnis macht, das die Grenzen konventioneller Musik sprengt.

„Mudbound“ (wiederum vom 2021er Album „Earthbound“) als sechster Song des Abends bildet schließlich als primär psychedelischer „Trip-Advisor“ den perfekten elegischen Abschluss des Sets, und der Applaus kennt keine Grenzen, als die Bühne schließlich eingetaucht in tiefrotes LED-Licht leer vor der Audienz steht.
Sofort setzt die schlimme Rausschmeißer-Musik vom Band ein, aber das Publikum lässt sich das nicht gefallen und schafft es tatsächlich, die Band noch einmal aus der Garderobe zu locken – es wird kurz mit dem Veranstalter diskutiert, und letztlich tritt Ingvald noch einmal vor das Mikro und muss sichtlich schweren Herzens kundtun, dass aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit und des dem FZW auferlegten Curfew keine Zugabe erfolgen kann. Die Setlist hatte als Encore noch „Roll Beyond“ vom Debutalbum „Windborne“ vorgesehen, und es wird schmerzlich bewusst, dass die zehn Minuten Zeitverlust durch das durchgetretene Base-Drum-Fell die Band und uns nun um einen weiteren heißersehnten musikalischen Leckerbissen bringen.

Aber das tut dem Gesamterlebnis keinen Abbruch, und so entlässt das Publikum die Band tief beeindruckt und voller Dank und Glückseligkeit in den mehr als wohlverdienten Feierabend in dem Wissen: wir werden uns wiedersehen, wann immer Kanaan in erreichbarer Nähe gastieren …

(peter)

Related Links:
https://kanaanband.bandcamp.com/music

https://stoyanedertkazzer.bandcamp.com/music

Filed under: Konzertphotos, Live Reviews, Prog, Psychedelic, Stoner, , , , , ,

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Gavial - Broken von ihrem neuen Album "Thanks, I Hate It", das am 23.01.26 erscheint

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