rockblog.bluesspot

musikalisches schreibkollektiv

Gavial – Vor

(pe) „Was für ein Debut!!! Unfassbar!!! Wie kann eine Band ein derart dichtes Meisterwerk als Erstling aus der Taufe heben?!?“ dachte ich beim ersten Hören dieser Platte … bis ich bei etwas näherer Auseinandersetzung mit der Band feststellte, dass „Vor“ tatsächlich kein Debut, sondern die konsequente Fortführung mehrerer zuvor veröffentlichter Alben und Kollaborationen mit Namen wie „Past“ (2016), „Folter & Strafe“ (2016), „Kill“ (2017) und „Zorn“ (2019) ist – veröffentlicht allerdings unter dem Bandnamen „Tourette Boys“, den die Band nun als unzeitgemäß und aus Respekt vor betroffenen Menschen mit dieser Erkrankung für das neue Album in „Gavial“ änderte (diese gute Entscheidung scheint recht kurzfristig gefallen zu sein, wurde auf der Promo CD doch kurioserweise der alte, bereits auf´s Cover gedruckte Bandname mit einem „Gavial“-Sticker überklebt).
Gavial, das sind Paul Willy Stoyan an der Gitarre, Paul Kollascheck am Bass, Conrad Brod an den Drums und Benjamin Butter mit Gesang und Gitarre. Vier seit 15 Jahren befreundete Musiker, die in verschiedenen Städten irgendwo zwischen Dresden und Berlin leben, und trotz der räumlichen Trennung auf „Vor“ zusammenfinden wie eine verschworene Vierer-WG, die auf 45 Quadratmetern lebend versucht (und es tatsächlich auch schafft!), aus der räumlichen Enge in die unendlichen Weiten des (mentalen) Universums auszubrechen…
Auf mitreißende Art und Weise schaffen Gavial es, auf „Vor“ Psychedelic-Element mit modernem Blues zu verbinden und weben dabei derart erhabene und stilistisch absolut neuartige Klangteppiche zu einem großen Konzept-Album zusammen, dass mir nach nun viermaligem Hören noch immer der Mund sprichwörtlich offensteht.
Aber beginnen wir von Vorne:

Zum intensiven Musikhören komme ich hauptsächlich in der familienfernen Isolation meines Autos, in der Lautstärke keine Rolle bei Frau, Kindern, Nachbarn oder sonstigen limitierenden Faktoren spielt.

Beim ersten Hören von „Vor“ auf ohrtechnisch gesundheitlich gerade noch tolerablem Volumen bemerkte ich plötzlich erschrocken ein unbekanntes Stottern meines Automobils – bis ich mich dabei ertappte, dass ich unbewusst zu einem hypnotisch-monotonen, alles durchdringenden Bass-Riff im zweiten Song das Gaspedal wie ferngesteuert immer wieder im Rhythmus der Basslinie tief hinunterdrückte und den Wagen somit in ungewollte Zuckungen versetzte. Der Bass ist es auch, der mich bei jedem erneuten Anhören auf´s Neue schwer beeindruckt. Insbesondere die Tiefen dieses Teils der Rhythmus-Gruppe verleihen dem Hörer über das ganze Album hinweg eine unglaubliche, fast schon körperliche musikalische Erfahrung, und ich kann jedem nur empfehlen, die Tieftöner auf der heimischen Anlage mal so richtig unter Last zu setzen – ist diese Voraussetzung geschaffen, kann es nun mitten hineingehen, in die tiefen Abgründe von „Vor“:

Song 1: Circles, Part 1
Das Album beginnt mit einem sehr ruhigen, melodischen und bluesig melancholisch vorgetragenen Song, der irgendwie ein musikalisches Pendant zu einem fernen Meeresrauschen zu sein scheint. Träume von einer besseren Welt. Sehr mellow und getragen von ruhigen aber eindringlichen Vocals, die unsere Bewegungen in einem ungesunden Kreislauf beschreiben, den es zu durchbrechen gilt: „Moving in circles without a sound“ …
Song 2: Modern Times
Von Beginn an setzt hier das eingangs beschriebene unendlich eindringliche und alles durchdringende Bass-Riff ein und trägt den gesamten Song in einem bedrohlichen Tonus, begleitet von einer fast flehenden, fragilen Stimme, die die „Modernen Zeiten“ anprangert und damit sicherlich Bezug nimmt zum Artwork des Albums: für den Titel wählte das Quintett ein Bild aus der Serie mit dem Namen „Flowers Of Terrible“ des in Dresden lebenden Künstlers Hamid Yaraghchi. Es zeigt einen im Zerfall begriffenen Menschenschädel, aus dem sich kurz vor dem Verblühen stehende Pflanzen ranken. Hat der Mensch sich mit seinen selbst geschaffenen Modern Times mit all dem Irrsinn von Klimakatastrophe, digitaler Überforderung, Fake News, Krieg vor der Haustür Europas, Schönheitswahn bis hin zur Idolisierung von Luxus und egozentrischer Selbstverwirklichung mit Verlust des Respekts vor den Mitmenschen seine eigene Apokalypse geschaffen? Der Schmerz in Benjamin Butter´s Stimme macht dies auf eindringliche Weise überdeutlich. Und so schwellen Gitarre und Vocals immer wieder an und ab, zeitweise steht komplett reduziert nur noch das Bass-Riff im Raum, dann wieder verschmelzen Gesang und Instrumente zu einer klagenden Einheit, bis am Ende des Songs nach Auflösung des tragenden Riffs sämtliche Instrumente und die mittlerweile selbst zum Instrument gewordene Stimme zu einem klimaktischen Chaos mutieren.
„Worst thing with these Modern Times … we cry, cry, cry!“
Song 3: Collector
In leicht abgewandelter Form rettet sich das Bass-Riff aus dem zweiten Song zu Anfang auch in „Collector“ hinüber. Eine wiederum bluesgetragene stimmliche Anklage „There´s no tomorrows“ beantwortet wie in einem Frage-/Antwort-Duell die E-Gitarre auf dem Fuße und übernimmt quasi das Klagelied des Sängers auf instrumentelle Weise, während ein sphärischer Klangteppich unter dem Song liegt, der sich mit zunehmender Spieldauer in einen Sog schraubt, der die ganze Welt in ein tiefschwarzes Loch am Himmel zu zerren scheint.
Song 4: Bridges
„Bridges“ kommt zunächst stark reduziert auf die Stimme daher, und ob des Titels wünscht sich der Hörer mittlerweile etwas Positivismus, einen Brückenbau der hinausführt aus der Schwärze – die Lyrics machen jedoch schnell klar, dass hier nicht von Bau sondern von Zerstörung von Brücken die Rede ist: „There is no luck for those who never get a chance to change – and none of them remain.“
Gospelartiger, fast schon sakraler Gesang fleht um die Rückkehr eines Erlösers: „…Nothing learned … We wait for your return – for your return“ – und die Sehnsucht schwillt stimmlich und instrumentell an bis zur finalen Stakkato-Explosion am Ende des Songs.
Song 5: Circles, Part 2
Die leise Melancholie aus Circles, Part 1 ist längst gewichen: mäanderndes Gitarrenflirren, ziellos strebend, nach neuen Ufern suchend, irgendwie trotz allem Unheil verzweifelt nach VORne blicken … bis dann die Lyrics aus Part 1 wieder aufgenommen werden, diesmal jedoch eher bestimmt von Aggression und Wut.
Song 6: Wheels
Auch „Wheels“ wird wiederum getragen von einem imposanten Bass-Riff und erinnert an einen „Black Angels“-artigen Song mit 60ies Vibe und insbesondere gegen Ende stark psychedelischem Einschlag:
„I sit on your shoulders for a long time, thought you would not notice – never been so wrong …“
Song 7: Passing
Der gesamte Song ist ein einziger düsterer, langsam auf der Stelle schwebender Noise-Klangteppich, ohne Melodie – und er vermittelt wiederum fast körperlich die düstere Leere einer depressiven Stimmung, ohne Antrieb, kalt, orientierungslos.
„Passing“ wörtlich genommen kann einen Übergang bezeichnen – oder auch das Dahinscheiden, das Sterben, den Tod. Musikalisch wird hier der Zustand einer Depression und ihre Ausweglosigkeit, ihr andauernder Schmerz scheinbar ins Unendliche gedehnt. Eine Suche, ohne zu finden …
Song 8: Famethrower
Der finale Song des Albums greift noch einmal kurz das Circles-Thema auf, nur um kurz darauf brachial und erneut getragen von einer aggressiven Basslinie den gesamten Frust der Selbsterkenntnis herauszulassen:
„I know for certain that I don´t belong here. Traded my virtues for luxories and fame.“
Ein entfernt an Spiritualized erinnernder musikalischer Spannungsbogen, der sich fast unmerklich anschwellend immer weiter aufbaut, als würde ein Trauma aufgebrochen, beendet dieses großartige dystopische Album und endet in einer alles zersägenden Gitarre, die schließlich nachhallend verklingt.

Fazit:
Gavial beschenken uns mit „Vor“ mit einem zwar düsteren, aber dennoch unbedingt und uneingeschränkt hörens- bzw. erlebenswerten Meisterwerk. Stilistisch nicht leicht zu fassen verbinden sie auf beeindruckendste Art und Weise Psychedelic Rock und Modern Blues zu einem herausragenden und einzigartigen Klanggebilde, das Spuren hinterlässt, sowohl rein musikalisch betrachtet als auch inhaltlich: Steht nun Erlösung oder der Tod am Ende, oder vielleicht ist auch beides irgendwie ineinander verwoben – dies ist letztlich der Interpretation des Hörers überlassen …
Ganz fatalistisch möchte ich die Album-Rezi jedoch trotzdem nicht ausklingen lassen. Um noch einmal Bezug zum Artwork zu nehmen: die Blumen scheinen zwar zu welken, jedoch sind sie nicht komplett ohne Blüte, sogar noch farbig. Vielleicht ist also doch noch nicht alle Hoffnung verloren – vielleicht können die Pflanzen wieder zum Blühen gebracht werden, kann der Mensch aus seinem selbstzerstörerischen Kreisen ausbrechen. Verstehen wir die Platte also als erhobenen Zeigefinger, quasi als musikalischen Motivator, unser Handeln zu überdenken, Gewohnheiten und unser gleichgültiges Hinnehmen zu ändern, auszubrechen aus unseren selbstzerstörerischen gesellschaftlichen und auch internen mentalen ewigen Kreisläufen – VOR zu gehen…

(peter)

Links:
https://gavial.bandcamp.com
https://www.facebook.com/Gavialband
https://www.instagram.com/gavialband
http://www.mainstreamrecords.de

Filed under: Album Reviews, Psychedelic, Rock,

international – choose your language

Mai 2023
M D M D F S S
1234567
891011121314
15161718192021
22232425262728
293031  

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten. Informationen zum Umgang mit Deinen Daten findest Du in der Datenschutzerklärung.

Diese Artikel werden gerade gelesen:

Desertfest Berlin 2023
Plainride - Plainride
Festivalplaner : Tabernas Desert Rock Fest 2023
ALCATRAZZ – Take No Prisoners

%d Bloggern gefällt das: