(pe) An diesem Abend mit Godspeed You! Black Emperor hatte ich eigentlich wenig Lust auf einen Support, zumal dieser auch im Vorfeld nirgendwo angekündigt war. Und normalerweise würde ich für einen Support auch keinen eigenen, vom Hauptact losgelösten Konzertbericht schreiben … im Falle von Marisa Anderson ist es mir jedoch eine echte Herzensangelegenheit, dies nun doch zu tun:
Um 20 Uhr betritt Marisa Anderson einsam und allein die große Bühne der Kantine in Köln – begleitet nur von Ihrer blauen E-Gitarre, und legt nach kurzer Begrüßung direkt los. Nicht viel erwartend bin ich jedoch vom allerersten Ton an wie elektrisiert, spielt Sie mir doch eine bluestropfende instrumentale Melodie ins Ohr, leicht verzerrt und verhallt, und nimmt damit von Beginn an nicht nur mich direkt gefangen.
Nach dem ersten Song stellt sie sich dann vor – sie komme aus Portland, Oregon in den USA und spiele für uns nun einen „dunklen Song“, angelehnt an eine Stelle aus der Bibel. Der Blues läuft wogenartig über die Audienz, und es wird spürbar, dass kaum einer erwartet hat, dass dieser Mensch mit dieser Gitarre an einem Abend, bei dem alle auf ein Soundspektakel der Hauptband warten, etwas derart Ergreifendes darbieten könnte.
Direkt nach dem dunklen Song folgt ein Song über die Apokalypse durch die Klimakatastrophe. Der Song sei ein Tango, falls es jemanden überkommen sollte, das Tanzbein zu schwingen, sagt sie voller Ironie. Und man spürt in jeder Nuance des Liedes die Verzweiflung und das Unverständnis gegenüber dem, was wir uns selbst da klimatechnisch eingebrockt haben.
Sie komponiere selten fröhliche Lieder, erzählt Marisa Anderson – aber eins habe sie doch für uns, geschrieben für ihre kleine Schwester, einfach, weil diese „amazing“ sei. Und urplötzlich liegt Unbeschwertheit, Leichtigkeit, Fröhlichkeit in der Luft. Ihre Finger fliegen über das Griffbrett in einer Virtuosität, wie ich sie selten gesehen habe. Und ich habe plötzlich Bilder meiner eigenen kleinen Schwester im Kopf, Bilder aus unserer Kindheit, draußen im Grünen spielend, von all dem heutigen Elend noch jungfräulich unberührt.
Was mich dann letztendlich komplett fast zu Tränen rührt, ist ihr Song über eine 1000 Jahre alte Beerdigungszeremonie, bei der der Leichnam in ein weißes Tuch gewickelt auf einem von Pferden gezogenen Vehikel zur Verabschiedung durch die Straßen eines Dorfes oder einer Stadt gezogen wird. Damit kommunizieren wir über diesen Song, so lässt Marisa uns wissen, nicht nur in eine tausendjährige Vergangenheit zeremonieller Verabschiedung unserer verstorbenen Liebsten, sondern auch über das Hören, Fühlen und Spielen des Liedes in die Zukunft und spenden damit Trost für alle Menschen, die den Verlust geliebter Mitmenschen zu verarbeiten haben – und die Melodie, sicher melancholisch, aber trotzdem auch irgendwie etwas Positives ausstrahlend, ruft mir ad hoc Bilder all der Menschen, die mich leider schon verlassen mussten, hinter meine geschlossenen Augen und ich bin zu Allertiefst gerührt, als der letzte Ton entschwebt. „Bang The Drum Slowly“ von Ihrem aktuellen Album „Still, Here“ heißt das Lied und ist gleichzeitig mein Anspieltipp für den interessierten Leser dieses Berichts.
Sie sei schon mit unzähligen Bands auf Tour gewesen, erzählt uns Marisa Anderson gegen Ende ihres Auftritts, aber Godspeed You! Black Emperor seien ihr von allen die Liebsten – und sie verspricht, dass GYBE uns später auf Flügeln in die Nacht entschweben lassen werden. Liebe Marisa Anderson: GYBE haben sicherlich viele interessante Dinge nach Deinem Auftritt mit uns angestellt – aber uns auf den Schwingen eines Vogels in die Nacht hinaus geführt … das hast an diesem Abend Du ganz allein!
(peter)
Filed under: Konzertphotos, Live Reviews, 18. April 2023, Marisa Anderson - Die Kantine Köln