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Full Earth – Cloud Sculptors

(pe) Achtung!
Wichtiger Sicherheitshinweis!
Bitte überlegen Sie es sich ganz genau, ob Sie dieses Album auf den Plattenteller legen wollen!
Denn danach wird nichts mehr so sein, wie es einmal war!
Die Sicherheitszone Ihres musikalischen Erfahrungshorizontes wird mit dem Hören dieses Werkes aus ihren Ankern gehoben werden und es besteht die sehr wahrscheinliche Möglichkeit, dass Ihre gewohnte musikalische Knautschzone schwerwiegend lädiert und Ihre musikalische Wahrnehmung damit nachhaltig verändert wird, denn: was hier auf Sie zukommt ist nicht weniger als ein gigantisches auditives Monument.
Eine gewaltige, donnernde, ganze Gebirge in die Tiefe reißende Sound-Lawine.
Ein berserklaufendes, unaufhaltbares, wutschnaubendes, tollwütiges Mammut mit tonalem Schaum vor dem Maul.
Der Auf- und Abgesang zu Konstruktion und Dekonstruktion des Turmes zu Babel.
Ein alles verschlingender kosmischer Vortex, der musikalische Materie und Antimaterie in einem Moment zu einem Staubkorn komprimiert, um im nächsten Moment als Urknall Zweipunktnull neue Klang-Universen zu formen.

Ihre Neugierde ist größer als die Angst?
Sie wagen es, den Schalter Ihres Plattenspielers auf „Start“ zu positionieren?

Na gut, aber sagen Sie hinterher nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt …

Full Earth sind Norwegens neuester musikalischer Experimental-Stoner-Psychedelic-Prog-Genius (sämtliche Versuche der Einordnung in jedwede Kategorien sind zum Scheitern verurteilt und werden der Bandbreite des Band-Oeuvres nicht gerecht!).

Komponist und Schlagzeuger Ingvald Vassbø (Kanaan, Motorpsycho) ist der Nabel dieses außergewöhnlichen Projekts, um den herum sich die Band mit den Kanaan-Mitgliedern Ask Vatn Strøm (guitars) und Eskild Myrvoll (additional Guitar, Korg MS-20 Synth, Noise) sowie dem Bassisten Simen Wie (Electric bass, add. Guitar) und dem Organisten/Synthesisten Øystein Aadland (Farfisa Organ, Yamaha yc30 Organ, Mellotron, Synthesizer) formiert.

Mit „Cloud Sculptors“ präsentieren Full Earth ihr Debutalbum und betreiben sogleich das Understatement des Jahres, denn auf dem Album werden nicht nur Wolken, sondern gefühlt gleich ganze Kosmen geformt.

Cloud Sculptors ist ein über 80-minütiges monumentales Album, und Full Earth nutzen die Spielzeit ausgiebig, um alle Facetten ihrer breitestens aufgestellten musikalischen Interessen wie ein Forscher-Team zu erkunden: gewaltiges, mitreißendes Riffing – komplexeste Rhythmen – mal verstörende mal anschmiegsame Orgeln und Synthies, die gerne auch zeitweise in verwirbelte Hurrikane kulminieren – aber auch ruhigere Töne, Avantgarde-, und gar Ambient-Anleihen sind über die Laufzeit des Albums verteilt zu finden.

Rein instrumentell erschafft die Band dabei Klanglandschaften, die nicht nur die Ohren fordern und betören, sondern unweigerlich auch visuelle Interpretationen vor dem geistigen Auge des Hörers entstehen lassen. Und es sind ebendiese offenen Interpretationen, in denen Ingvald Vassbø den großen Reiz instrumentaler Musik sieht, wie er selbst sagt: „Was mir an der Instrumentalmusik am meisten gefällt, ist, dass der Zuhörer oft viel Raum hat, die Musik zu interpretieren und so seine eigene „Bedeutung“ zu entdecken“.

Genau nach dieser Auffassung konstruierte die von Ingvald engagierte Freundin und Künstlerin Sunniva Hårstad das Cover-Art komplett frei aus Ihren beim Hören der Musik von „Cloud Sculptors“ hervorgerufenen Emotionen und Vorstellungen.
Ingvald beschreibt den Entstehungsprozess selbst in dieser Antwort auf meine Frage nach der Bedeutung des Artworks:
„ Als ich das Album gemacht habe, wusste ich, dass das Cover sowohl spirituell als auch symbolisch sein sollte, aber auch eine Art grobes oder raues Element haben sollte. Ich habe mich intensiv mit Mythologie, Folklore und Spiritualität beschäftigt, als ich das Album gemacht habe, und ich wusste, dass Sunniva schon seit langem mit Themen aus dem Folklorebereich gearbeitet hat. Mit unserer gemeinsamen Faszination für den norwegischen Künstler Gerhard Munthe machte es einfach Sinn, sie zu bitten, das Cover zu kreieren. Es symbolisiert für mich viele Dinge, aber die Ästhetik ist mir vermutlich wichtiger als die Tatsache, dass unbedingt eine Bedeutung transportiert werden muss. Als ich das Cover von Sunniva zurückbekam, war ich wirklich zufrieden damit. Ich habe das Gefühl, dass von ihm eine wirklich lebendige Energie ausgeht, die meiner Meinung nach genau zur Musik des Albums passt.“

Der Albumtitel „Cloud Sculptors“ ist laut Ingvald nach der Kurzgeschichte „The Cloud-Sculptors of Coral D“ des britischen Surrealisten James Graham Ballard benannt, die in einer fiktiven Wüste namens Vermillion Sands spielt. Funfact dabei ist, dass diese sogenannten Vermillion Sands angeblich auf Palm Springs in Kalifornien basieren: dem mythischen (und wie manche behaupten würden) Geburtsort des Stoner Rock und der berühmten Palm Desert-Szene, was sich in den Stoner Rock beeinflussten Passagen des Albums musikalisch hörbar niederschlägt.
Wie im richtigen Leben ist somit auf Cloud Sculptors gemäß Hildegard von Bingens berühmtem Zitat auch „alles mit allem verbunden“ …

Wir steigen ein in das Album mit „Full Earth“, dem zentralen und durch eine Zweiteilung in Part I – Emanation als Opener und Part II – Disintegration als Albumsabschluss das Album quasi umspannenden Track.
Pt. I – Emanation macht in Verbindung mit dem Albumtitel eine weitere starke Inspirationsquelle für Ingvalds Komposition deutlich, bezeichnet der Begriff in der griechischen Mythologie doch das Hervorgehen von etwas aus seinem eigenen Usrprung: Ingvald selbst verweist hier auf die „Geburt der Nephele“, einer von Zeus aus den Wolken geformten Skulptur in Gestalt der Hera. Und die akustische Umsetzung dieses Eingriffes des höchsten olympischen Gottes ist ein 21-minütiges Monument! Massive Riffs bilden die perfekte Symbiose mit mal knarzenden, mal glockenklaren Gitarren während die (kurzzeitig gar an Ray Manzareks Spielart erinnernden) Keys allgegenwärtig durch die Komposition flirren. Der „Schöpfungsprozess“ lässt dem Hörer 13 Minuten lang kaum Luft zum Atmen und kulminiert dann in eine reine Synth-Klanglandschaft, bis schließlich mit schreiender Gitarre die Anfangsmelodie wieder aufgenommen und unter treibendem Schlagzeugbeat bis zum Schöpfungsende gepeitscht wird.
Dieser Song steht alles überragend im Raum wie der schwarze Monolith aus Kubrick´s „2001“, ein tongewordenes Manifest der Erkenntnis – in diesem Falle der Erkenntnis, dass man soeben als Zeuge der Geburt, der Schöpfung eines Meisterwerkes beiwohnen durfte.

Es folgt der schon als erste Auskopplung veröffentlichte Titeltrack „Cloud Sculptors“, der uns sanft mit einer Grundmelodie aus synthetisierten Flötentönen abholt, zunächst von ruhigen Tönen einer Slide-Guitar untermalt wird, um plötzlich nach 3 Minuten einen Booster einzulegen, die Melodie von einer fuzzigen Gitarre übernehmen zu lassen und sich dann in ein volles Hardrock-Brett zu verwandeln. Bis zur Mitte des Songs türmt sich eine Schlagzeug-Kaskade auf die nächste, es herrscht brachiale Gewalt, und im Kopf entstehen Bilder des eingangs erwähnten Turmbaus von Babel mit all seinen Irrungen und Wirrungen sprachlicher Art, hier von den Instrumentalisten in Perfektion vertont bis zum Einsturz der von Gigantismus geprägten Architektur.
Eine herrliche Querflöten-Katharsis mit leichter Akustikgitarren-Untermalung belohnt den Hörer (und die Wolken-Bildhauer) versöhnlich am Ende aller Anstrengung.

Hegels Begriff des „Weltgeistes“, letztlich das Finden der „Vernunft“ in der Geschichte, lautmalt der dritte Song des Albums mit reinen Synthie-Klängen und gibt dem Hörer Gelegenheit, sich zu sammeln und aus der Überwältigung wieder aufzutauchen.
Da ja freie Assoziation durchaus gewünscht ist, sei dem Autor verziehen, beim Hören von „Weltgeist“ eine weite, reine, unberührte Schnee- und Eislandschaft zu sehen – und die Synthesizer-Kompensation wie eine Weiterführung von Ennio Morricones Filmmusik zu John Carpenters „The Thing“ zu empfinden.

„The Collective Unconscious“ ist der für mich herausragende Track dieses Albums und beginnt gemächlich mit einer repetitiven Mellotron-Struktur und einem folgenden sakral anmutenden Orgelthema, das in Laufe des Songs gänsehauterschaffenden Gitarrensoli weicht, um in den letzten 7 Minuten des insgesamt 18 Minuten umfassenden Tracks dem Hörer mitten auf die Zwölf ein bombastisches, nicht enden wollendes Thor-Hammer-Riff wieder und wieder erbarmungslos entgegenzuschleudern, das perfekt mit Wagners Begriff der Götterdämmerung, dem Fall und Untergang der Götter und dem Beginn eines neuen Zeitalters umschrieben ist.

Mit „Echo Tears“, dem zweiten vorab veröffentlichten Stück, gehen Full Earth völlig neue Wege und zementieren hier spielerisch ihren unglaublichen musikalischen Facettenreichtum: Quelle der Inspiration für „Echo Tears“ sind insbesondere die frühen kosmischen Synthesizer-Werke von Daniel Lopatin (ein US-amerikanischer Experimental- und Elektronikmusiker und Komponist) und Ingvald bezeichnet den mit Øystein aufgenommenen Song als eine Art „Echo-Jam“ von Lopatins Frühwerk. „Echo Tears“ ist ein Avantgarde-Werk mit Ambient-Einschlag, das sich klanglich deutlich von den anderen Tracks abhebt.

„Full Earth Pt. II – Disintegration“ schließt den Schöpfungskreis, pirscht sich minutenlang raubtierartig an den Hörer heran und bricht schließlich ekstatisch in schwere Riffs, vertrackte Rhythmen und wild umherwirbelnde Orgeln und Synths aus, die final chaotische Züge annehmen und mich kurz fühlen ließen, als würde der gesamte zuvor entstandene Akustik-Film im Zeitraffer rückwärts laufen und sich selbst einsaugen, absorbieren, dem Titel „Disintegration“ entsprechend in sich selbst auflösen – vielleicht um die Initialzündung für den nächsten Schöpfungsprozess zu starten…

Dieses Review ist in all dem Überschwang fast in ein kleines Essay ausgeartet – aber ein Album wie „Cloud Sculptors“ erscheint nicht alle Tage und ich bin der Meinung, dass man ein derart außergewöhnliches Stück Kunst entsprechend würdigen sollte.

Als letztes Bild meiner Imaginations-Reise durch das Album sehe ich nach dem letzten verklungenen Ton im Aufnahmestudio Ingvald mit monströsen Ice-Packs auf den Armen und Ask, Eskild, Simen und  Øystein mit tief in der Eistonne vergrabenen Händen erschöpft hinter ihren Instrumenten sitzen, ihre glühend heiß gespielten Körperteile erzeugen Zischlaute beim Kontakt mit der Eiskühlung und Wasserdampf steigt aus den Behältnissen empor. Niemand ist mehr eines artikulierten Lautes fähig, aber in der Luft liegt ein tiefes Gefühl der absoluten Zufriedenheit im Bewusstsein, hier ein Werk, eine ganz besondere eigene Wolke kreiert und geformt zu haben, die sämtliche Gottheiten jeglicher Mythologie vor Anerkennung und vielleicht auch vor etwas Neid erblassen lassen wird…

Es wird ein großes Fest sein, live erleben zu dürfen, wie Full Earth ihr Werk in diesem Jahr auf die Bühne bringen werden!

Mein besonderer Dank geht an Rolf Gustavus (Stickman Records) und Ingvald Vassbø für Ihre freundliche Unterstützung bei der Recherche zu diesem Album, das am 15. März 2024 auf Stickman Records erscheinen wird.

(peter)

Preorder und Bestellung:

https://www.stickman-records.com/shop/full-earth-cloud-sculptors/

Full Earth Live Termine:

https://www.stickman-records.com/tours/

Full Earth auf dem Freak Valley Festival 2024:

https://www.freakvalley.de/lineup/

Full Earth online:

https://www.facebook.com/Fullearth

https://www.instagram.com/full_earth_sounds

https://www.stickman-records.com/band/full-earth

Filed under: Album Reviews, Art-Rock, Experimental, Fuzz, Hardrock, Prog, Psychedelic, Stoner, , , , , ,

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