„… wie ein überquellendes Füllhorn philosophischer Themen und musikalischer Erfahrungen …“
(pe) Le Mur aus Bochum, ein in 2007 formiertes Trio bestehend aus Janine Ficklscherer (Bass & Synthies), Matthias Gräf (Gitarre, Vocals, Keyboards, Saxophon) und Georgios Dosis (Drums & Percussion) bezeichnen sich selbst als „Art-Rocker – irgendwo zwischen Jazz und Noise“. Schon diese Selbstdefinition zeigt deutlich die musikalische Bandbreite innerhalb derer die Band agiert, denn Jazz und Noise liegen durchaus eher an entgegengesetzten Polen der musikalischen Genre-Skala, und dazwischen liegen ganze Klanguniversen …
Le Mur in eine Schublade mit einer einzigen Überschrift zu stecken, wäre allerdings auch fast sträflich nachlässig: denn schon die drei Vorgänger-Alben „In Tenebris“ (2012), „Silentia Nova“ (2013) und „Exorta“ (2018) zeigen eindrücklich, wie sich mannigfaltige „Stil-Crossovers“ mit Ingredienzien von Krautrock, Progrock, Indierock, Jazz, Elektronikmusik, Psychedelic, Artrock, – und vermutlich könnte ich diese Liste noch weit länger ausführen – kreieren lassen.
Und ebendiesen musikalischen Schmelztiegel bringen Le Mur auch auf Ihrem neuen 2023er Album konsequent weiter zum Kochen.
Le Mur wäre jedoch grobes Unrecht getan, würde man Kritiken oder Interpretationen auf rein musikalischer Ebene behandeln, denn auch thematisch zeigen sich Le Mur immer komplex: namensgebend könnte durchaus Sartres existentialistische Kurzggeschichte „Die Mauer“ (Originaltitel im Französischen: „Le Mur“) gewesen sein, in der sich die Protagonisten als zum Tode veruteilte Gefangene im Spanischen Bürgerkrieg mit dem Thema Leben und Tod auseinandersetzen müssen, als ihnen offeriert wird, ihr eigenes Leben durch die Preisgabe des Aufenthaltsortes eines Kameraden retten zu können. Es geht Sartre laut Wikipedia um „das Reflektieren der Wahrheit des bewusst handelnden Menschen, der sich gegen physische Gewalt, Konvention, Unsicherheit und Einsamkeit zu behaupten versucht“.
Und so beschäftigen sich Le Mur auf ihrem vierten Album „Keep Your Fear Away From Me“ intensivst wie der Name schon andeutet, mit dem existentialistischen Thema menschlicher „Angst“.
Unter Einsatz originaler Tonaufnahmen des Indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti zum Thema „Angst“, die immer wieder in die Songstrukturen eingebaut sind, verweben sie eindrucksvoll musikalisches und thematisches Konzept zu einem komplexen Konzeptalbum und bieten sogar Lösungen für einen Ausweg an mit Hilfe von Krishnamurti´s Ansätzen der vollständigen Befreiung des menschlichen Beswusstseins von Angst durch Meditation und Aufmerksamkeit zur Erkennung der wahren Natur der Angst durch Beobachtung des eigenen Geistes im Moment des Eintretens. Unser Gehirn ließe sich „umprogrammieren“ durch konsequente Übung der reinen wertungsfreien Beobachtung unserer Reaktion auf die Angst.
Eine faszinierende Thematik, die sicherlich ganze Bücher füllen könnte und den Rahmen einer Plattenkritik sicherlich schon im Ansatz sprengt. Nichtsdestotrotz möchte ich hier meiner Begeisterung für das Konzept der Kombination von Musik mit philosophischem Existentialismus zum Ausdruck bringen. Ich wünschte, mein Philosophielehrer hätte vor 35 Jahren diese Platte zur Verfügung gehabt und damit seinen Unterricht brennend interessant gestaltet …
Und die Musik nimmt den Hörer an die Hand auf dem Weg durch seine höchsteigene Introspektive:
Der erste, 15 Minuten umspannende Track „… the past will be perfect …“ beginnt äußerst reduziert mit Keyboardklängen, bis kurze Zeit später zum ersten mal die Stimme von Jiddu Krishnamurti einsetzt und über die Neigung des Menschen zur Vermeidung von Achtsamkeit durch Ablenkung/Entertainment referiert. Drums und Bass setzen ein und schleichend entwickelt sich ein musikalischer Sog, der eindringlich und hypnotisch in das Bewusstsein des Hörers drängt, dabei wie zufällig einzelne zusätzliche Instrumente hinzubringt, zunächst klassisches Klavier, das später von einer Hammond-Orgel gepaart mit Krishnamurti´s Stimme (referierend über diverse menschliche Ängste wie z.B. vor Krankheiten oder Tod) abgelöst wird. Drums und ein Sonic Youth – artiger Bass werden zwingender und bauen mit dem Einsatz einer elegischen E-Gitarre eine erste Klimax auf, die nach ca. 9 Minuten wieder in sich zusammenfällt. Nach Reduktion auf die Rhythmusgruppe und Einführung des Saxophons als neuem Instrument werden auf musikalische Art neue Ecken des Hörer-Bewusstseins ausgelotet. Wenn schließlich nur noch das Saxophon allein erhaben im Raum schwebt und dann urplötzlich zusammen mit der Philosophenstimme ein kakophonischer Jazzpart einsetzt, spürt der Hörer fast körperlich menschliche Verirrungen und Verwirrungen bis hin zum schmerzhaften Saxophon-Finale und der Erkenntnis: „There is no division between the observer and the observed … that perception, which is holistic, frees the mind from fear – completely!“
Der zweite Track zwingt uns direkt zu Beginn mit Vogelgezwitscher und einem kindlich gesungenen „Na na na…“ zur Achtsamkeit – richtet unser Gehör auf den einzelnen Moment, das Jetzt, das Singen der Vögel. Und erinnert gleichzeitig durch die Kinderstimme an die Zeit der Kindseins, in der Vergangenheit und Zukunft keine Rolle spielten, sondern nur das bloße Sein im Jetzt, im Moment. Dazu perfekt passend trägt der Track den Titel „Today Is The Day / The Beauty Of Now“, und die Leichtigkeit des Moments wird durch die anfängliche Ausstrahlung von Leichtigkeit im Rhythmus von Drums und Bass unterstützt. Die ersten Lyrics des Albums lassen jedoch alles Wohlgefühl schnell wieder verblassen und prangern mit „Humanity has failed“ das eigene menschliche Versagen an, worauf der wunderbar rockige zweite Teil des Songs mit viel Wahwah eingeleitet wird – man möchte tanzen (auch der Tanz ist ein Flow-Erlebnis, der Tänzer rein im Moment, ohne Vorher, ohne Nachher), und gibt sich am Ende gerne wieder der Schönheit des Augenblicks („The Beauty Of Now“) hin mit erneuten Vogelstimmen und einem abschließenden ruhigen Streicher-Part.
Mein persönliches Highlight findet sich dann im dritten Track „Another Life / Burning The Tree / I See You“: nach eher aggressivem Beginn in „Another Life“ mit der Forderung „Kill the snake, burn the tree“ deutet alles auf Erneuerung, auf Neuanfang hin. Schlange und Baum am Anfang von Allem im Garten Eden vernichten, und sich daraus neu entwickeln – so könnte man interpretatorisch vermuten.
Auf musikalischer Ebene sticht an dieser Stelle die „Burning The Tree“ vertonende fantastische minutenlange Saxophonpassage aus dem Album heraus wie ein strahlender Stern. Wenn sich Vernichtung alter Muster und daraus entstehende Erneuerung so anhört wie dieses Saxophon – dann sollte man den Schritt wirklich wagen …
Final mit „…For The Puzzles Of The Future …“ geht Le Mur ein letztes mal (nach seichtem Synthie-Beginn – höre ich da das Thema von Joy Division´s „Love Will Tear Us Apart“ heraus?!?) unterstützt durch Jiddu Krishnamurti´s Lehre in Klausur mit der Angst: „Fear exists when there is inner tension“ Und diese Anspannung und schlussendlich auch die Angst verliert sich nur, wenn der Mensch der Angst und seiner Reaktion auf die Angst seine volle Aufmerksamkeit schenkt, aber ohne zu bewerten: … not to analyse it, not to rationalize it, not to escape from it, not to observe it from the past … and when you do: fear is gone!!!“
Es darf also gehofft werden, dass der Mensch sich mit entsprechendem Verhalten selbst am Schopf herauszieht aus seiner selbstgemachten Misere von Krieg, Klimakatastrophe und so vielen anderen schieflaufenden gesellschaftlichen Entwicklungen. Durch Verlust der Angst kann er vielleicht neue, konstruktive Wege heraus aus der Krise beschreiten.
Brachial rockige Passagen mit vielen Gitarrensoli wechseln sich im letzten Song ab mit stilleren Phasen und stellen ein weiteres mal die Virtuosität und Multiinstrumentalität dieser Band eindrucksvoll unter Beweis. Irritierend empfinde ich allein das Ende mit eher mollartigen Gitarrenklängen und dem finalen Sound eines „Buzzers“, dessen Interpretation mir schwerfällt: Ist es das Geräusch menschlichen Versagens, der „Leider Verloren“-Buzzer in einer universalen Spiel-Show? Oder ist es der Summer einer sich öffnenden Tür hinaus aus Furcht und Elend? Die Interpretation ist dem Hörer natürlich selbst überlassen – ich für meinen Teil möchte an die Hoffnung auf eine Zukunft ohne Ängste glauben …
Jedem, der Musik nicht einfach nur „hören“ möchte, sondern sich gerne auch einmal tiefergehend mit ihr und ihrem den Inhalt unterstützenden Transport von Bedeutungen auseinandersetzt, bietet „Keep Your Fear Away From Me“ wie ein überquellendes Füllhorn philosophischer Themen und musikalischer Erfahrungen die allerfeinsten Voraussetzungen für fernsehlose interpretative Diskussions-Abende mit guten Freunden … oder eben auch die Offerte einer (vielleicht längst überfälligen) Auseinandersetzung mit der eigenen Person. (peter)
Tracklist „Keep Your Fear Away From Me“
1. …the past will be perfect… 15:00
2. today is the day / the beauty of now 09:26
3. another life / burning the tree / I see you 11:18
4. …for the puzzles of the future. 12:12
Le Mur bei Rockblogbluesspot:
https://rockblogbluesspot.com/2013/09/30/le-mur-und-aphodyl-bei-den-underground-axparten-am-27-09-13/#more-4755
Le Mur – In Tenebris
Le Mur im WWW: https://le-mur.de/
Filed under: Art-Rock, Classic Rock, Elektronik/Motorik, Fusion, Indie, Jazz, Krautrock, Prog, Psychedelic, Rock, Le Mur - Keep Your Fear Away From Me




