rockblog.bluesspot

musikalisches schreibkollektiv

Life Of Agony – 30 Years of River Runs Red Tour im JunkYard Dortmund Open Air, 12. Juni 2023

„Verschwende nicht Deine Lebenszeit“

(pe) Der JunkYard in Dortmund mausert sich immer mehr zum Szene-Spitzenreiter Dortmunds. Seit 2016 sind nunmehr schon einige bekannte Größen dort aufgetreten und klagte man als Dortmunder vor einigen Jahren noch fürchterlich darüber, dass alle Bands zwar nach Köln aber niemand nach Dortmund kommt (mit etwas Glück war die ein oder andere Band im FZW zu bestaunen), so sind diese Durststrecken augenscheinlich und gottseidank vorbei.

Und so ist auch der gestrige herrliche Open-Air-Sommerabend dem außergewöhnlichen Booking des JunkYard zu verdanken, denn: Life of Agony gastierten vor fast ausverkauftem Haus im JunkYard, um zum 30jährigen Jubiläum ihres Debut-Albums „River Runs Red“ ebendieses in Gänze zu spielen.

Was war das für ein irres Debut damals in 1993 – da kommt eine gänzlich unbekannte Alternative-Metal-Band aus den USA daher, und haut mit einem Konzeptalbum über Frustration, Depression und Suizid eines Teenagers einen rauen Rohdiamanten raus, der sie von jetzt auf gleich weltweit bekannt macht.

Vom Rolling Stone wird dieses Album erst 2017 noch auf Platz 58 unter den 100 besten Metal-Alben aller Zeiten gehievt. Und Dortmund kommt hier und heute in den Genuss dieses Werkes in Fast-Originalbesetzung: Mina Caputo an den Vocals, ihr Cousin Joey Z. an der Gitarre, Alan Robert am Bass, und einzig die Position an den Drums ist mit Veronica Bellino neu (und brilliant) besetzt.

Die unerträgliche Hitze der letzten Tage hat sich für diesen Abend schönerweise verzogen, und es erwartet uns ein lauer Sommerabend, leicht bewölkt bei smoothen 24 Grad Celsius. Die Black Mirrors aus Belgien spielen das Publikum 40 Minuten lang mit einer fetten Kombination aus Blues- und Hardrock in Laune und heben die leichte meteorologische Abkühlung direkt mal wieder um ein/zwei Grad an – bis um kurz nach 20 Uhr nach einem Tape-Einspieler von Pink Floyds „Hey You“ die „Heroen von Damals“, allen voran natürlich Mina Caputo, live und in Farbe im warmen Licht der untergehenden Sonne in der einfach nur umwerfenden Schrottplatz-Kulisse zwischen aufgestapelten Schiffscontainern, graffitistrotzenden Wänden und bemalten Autowracks vor uns stehen und mit „This Time“ direkt Vollgas geben. Der Sound lässt den Körper vibrieren und Mina´s Stimme kommt der Originalaufnahme von 1993 unerwarteterweise tatsächlich noch sehr nah – und das beeindruckt!

Das Publikum allerdings scheint anfänglich überfordert, und als Mina direkt zu Beginn des zweiten Songs „Underground“ die Worte „If you don’t walk with me …“ ins Mikro haucht, dieses dann dem Publikum entgegenreckt, geht ein leicht peinlicher Moment der stillen Unsicherheit durch die Menge („Oh Gott, wir sollen singen – wie waren die Lyrics denn bloß nochmal?! Ist immerhin 30 Jahre her, dass ich zu dem Song in meinem Kinder- und Jugendzimmer durchgedreht bin …“). Die Band quittiert diesen Aussetzer allerdings sehr sympathisch mit einem kollektiven Lächeln, und Mina beendet den Moment der Scham schließlich und gibt sich selbst die Antwort „… I will walk alone!“ – und Joey Z. bricht direkt mit der Brechstangen-Gitarre über den kurzen Moment der Ruhe herein.

Vielfach wurde der Band bei den Folgealben vorgeworfen, zu überstrukturiert zu agieren und eben diese faszinierende Rohheit von „River Runs Red“ verloren zu haben – live jedoch gelingt es den vier Akteuren wirklich auf´s Beeindruckendste, das Flair der realistischen, ungeschliffenen, natürlichen, brachialen musikalischen Tour de Force der letzten Tage im Leben des auf den Suizid zusteuernden Jugendlichen auf die Bühne zu bringen. Der berühmte Funke springt ab dem dritten Song „River Runs Red“ spürbar auf´s Publikum über und von dort direkt zurück auf die Band: das Publikum scheint sich der Tage ihres eigenen Teenage Wastelands Anfang der 90er zu erinnern, und die Band genießt die Atmosphäre der Begeisterung, die untergehende Sonne szenisch zum Inhalt passend immer vor Augen. Joey Z. springt und hüpft im Misfits-Shirt, reißt das Publikum immer wieder mit und initiiert von der Bühne herab auch den ein oder anderen Moshpit in den vorderen Reihen. Alan Roberts mit seinem Bass ist kaum einmal stillstehend mit der Kamera einzufangen und bewegt sich genau wie Joey äußerst agil, immer mal wieder einen kleinen Poser-Stopp einlegend auf der eigens für diesen Abend errichteten kleinen Empore direkt im Fotografen-Graben. Und Mina, bis kurz vor Schluss mit einer dunkelbraunen XXL-Sonnenbrille bekleidet, die auch einem Elton John alle Ehre gemacht hätte, schreit und singt die Verzweiflung des Protagonisten aus „River Runs Red“ ins Mikro, windet sich zuckend hinter dem Mikrofonständer und sucht ausgiebig die Nähe zum Publikum über die Empore. Da geschieht es sogar, dass mitten im Song ein Fan-T-Shirt von der Bühne aus signiert wird.

Das Publikum feiert lautstark und für den offensichtlichen Altersschnitt einer straffen auf die 50 zugehenden (oder in vielen Fällen auch schon überschreitenden) Menschenmenge durchaus bewegungsstark mit diversen leichteren Pogo- und Moshpit-Einlagen. Joey Z. selbst macht sich in einer kurzen Pause zwischen den Songs darüber lustig, dass bis auf Veronica an den Drums alle Protagonisten mittlerweile um die 50 Lenze zählen – er sei doch „gerade eben erst“ mit dem Album hier in Deutschland auf Tour gewesen, versucht er die dazwischenliegenden 30 Jahre kopfschüttelnd von den Schultern zu wischen. „Keine Sorge, Joey!“ möchte man ihm daraufhin zurufen, denn für dieses Alter ist die Band kollektiv noch äußerst ansehnlich und mehr als fit unterwegs!

Mit andauernder Begeisterung und ohne auch nur ein einziges mal das Tempo zu drosseln, erleben die Zuhörer gemeinsam mit der Band und der immer noch sehr eindringlichen Stimme Caputos in Musik und Lyrics von „Through and Through“, „Words and Music“, „Bad Seed“, „My Eyes“, „Respect“, „Method of Groove“ und „The Stain Remains“ die toxische Odyssee des Teenagers während der letzten Tage vor seinem Suizidversuch. Wie schon auf dem Album werden auch heute Abend live mit Einspielern vom Band für „Monday“, „Thursday“ und „Friday“ die entscheidenden Ereignisse im Leben des jungen Menschen, die letztlich zum Suizid führen, verdeutlicht: die Freundin trennt sich per Anrufbeantworter-Nachricht, der Chef kündigt den Job, die Lehrerin teilt die schulische Nichtversetzung mit, und über allem schweben die schlimmen Beschimpfungen durch die Mutter, die fehlende elterliche Liebe deutlich machen. Die Tour de Force endet schließlich mit dem vertonten Aufschlitzen der Pulsadern unter der Dusche und dem finalen Fade Out des Sounds eines tropfenden Wasserhahns. Waren wir 1993 als Hörer schockiert von diesem Ende, so wissen wir heute nach dem 2019er Album „The Sound of Scars“, dass der Protagonist den Suizidversucht überlebt hat und so widmet sich „Sound of Scars“ dem Thema der Traumabewältigung und der Heilung. Ähnlich versöhnlich ist schließlich der Ausklang des Konzerts: als Zugabe folgt nach „Scars“ vom erwähnten Sequel-Album noch ausgiebiger Fanservice mit „I Regret“, „Let´s Pretend“, „Lost at 22“ und „Other Side oft he River“ vom 95er Klassiker „Ugly“. Das Publikum wirkt ausgelassen, als könne es nach der heftigen Thematik von „River Runs Red“ nun endlich frei durchatmen, und feiert jeden „Ugly“-Song frenetisch singend und tanzend.

Nach 90 Minuten wird es dann noch einmal sehr intim: Mina kniet auf der Empore nieder, zeigt zum ersten mal ihr ganzes Gesicht, das zuvor dauerhaft von der großen dunklen Sonnenbrille verdeckt war, und genießt wortlos sichtlich in vollen Zügen die vor ihr liegende Stimmung im JunkYard. Dann bedankt sie sich höflich für den Abend und die entgegengebrachten Emotionen und wünscht allen Anwesenden, dass sie ihren Weg im Leben finden mögen. Sie ermutigt jeden Einzelnen dazu, nicht blind hinter irgendetwas herzujagen, sondern eben den Mut zu haben, der Mensch zu sein, der man gerne sein möchte. Sie selbst hat es eindrucksvoll vorgelebt …
 Und perfekt passend zu diesen berührenden Worten, die keine Plattitüden sind, denn sie kommen ihr sichtlich und voller Ernst direkt aus der Seele, hebt die Band zum finalen Song „Weeds“ an, der passend zu Mina´s Abschiedsworten die Verschwendung wertvoller Lebenszeit durch das Laufen in eine falsche Richtung thematisiert…

Der Applaus bleibt noch etliche Minuten nachdem die Bands die Bühne verlassen hat im Raume (bzw. heute eher im Freien) stehen, und jeder weiß in diesem Moment, dass er definitiv keine Lebenszeit verschwendet sondern einen ganz speziellen und wertvollen Konzertaugenblick hier im JunkYard in Dortmund erlebt hat, der für den Rest des Lebens bleiben wird.

Mein herzlicher Dank geht an das gesamte JunkYard-Team für Eure hervorragende Organisation und das geniale Booking, an Joe Schmidt für die Akkreditierung, und natürlich an die Band für diesen unvergesslichen Abend. (Peter)

Filed under: Konzertphotos, Live Reviews,

Archiv

international – choose your language

Juli 2023
M D M D F S S
 12
3456789
10111213141516
17181920212223
24252627282930
31  

Gib deine E-Mail-Adresse ein, um diesem Blog zu folgen und per E-Mail Benachrichtigungen über neue Beiträge zu erhalten. Informationen zum Umgang mit Deinen Daten findest Du in der Datenschutzerklärung.

Diese Artikel werden gerade gelesen:

Sonic Whip 2024 - The Rise of the Underdogs
Violette Sounds – Infinity
Festivals, Konzerte, Tourneen + Veranstaltungen
Freak Valley Festival 2023 Donnerstag